Alle wollen einen Unterschied machen

12.09.2022
3/2021

Wenn Menschen sich wahrgenommen und wertgeschätzt fühlen, engagieren sie sich lieber. Dies kann sich die Führung zunutze machen, um das Commitment zu steigern. Das tut not: Die Rate der engagierten Mitarbeitenden liegt seit Jahren zwischen 11 und 17 Prozent. 

Wer wünscht sich nicht ein Team, das engagiert bei der Sache ist, sozial und fachlich kompetent arbeitet, mitdenkt und täglich motiviert zur Arbeit erscheint? Die «eierlegende Wollmilchsau» gibt es natürlich nicht. Aber Führungskräfte können einiges tun, um die Motivation und das Engagement der Mitarbeitenden so zu erhöhen, dass sie sich dem Unternehmen selbstverständlich verpflichtet fühlen und gegenüber dem Arbeitgeber wirkliches Commitment an den Tag legen.

Es lohnt sich, denn das Unternehmen erhält es vielfach zurück. Dies zeigt auch die Forschung auf dem Gebiet. «Eine hohe emotionale Bindung an die eigene Firma resultiert in einer geringeren Zahl von Abwesenheitstagen, in verminderter Fluktuation und in hoher Arbeitsqualität», sagt der deutsche Neurowissenschafter Joachim Bauer. Das wirksamste Mittel, das Vorgesetzte zur Verfügung haben, um die Motivation und Arbeitsfreude ihrer Teams zu stärken, sei eine gute, professionelle Gestaltung der Beziehung zu den Mitarbeitenden. Wie das genau geschieht? Hier kommt der springende Punkt: Die Motivationssysteme der Beschäftigten können nur dann aktiv werden, wenn sich die Mitarbeitenden persönlich «gesehen», wahrgenommen und beachtet fühlen.

Bauer, der ein Buch zum Thema «Arbeit» verfasst hat, beschreibt es so: Es geht darum, eine Balance zwischen verstehender Zuwendung und klarer Führung zu finden. Etwa indem Führungskräfte die Mitarbeitenden mindestens wöchentlich in kleinen Teams, eventuell sogar täglich, persönlich kurz kontaktieren und in angemessenen Abständen mit ihnen die Arbeit besprechen. Eine wichtige Rolle spiele auch die Anerkennung. Sie umfasse neben dem fairen Lohn auch die Wertschätzung der erbrachten Leistung, die Sicherheit des Arbeitsplatzes und berufliche Entwicklungschancen.

Anspruchsvolle Gen Z

Ein besonders wertvolles Gut ist Commitment bei der Generation Z, die jetzt auf den Arbeitsmarkt kommt. Für sie seien Selbstverwirklichung und ein hoher Erlebniswert bei der Beschäftigung zentral. Sie sei zudem nicht mehr bereit, sich langfristig und loyal an einen Arbeitgeber zu binden, halten die Autoren Isabell Brademann und Rüdiger Piorr im Arbeitspapier «Das affektive Commitment der Generation Z» der FOM Hochschule für Ökonomie & Management Essen fest. Darin haben sie das Bedürfnis der Mitarbeitendenbindung an Unternehmen und dessen Einflussfaktoren untersucht.

Überraschend ist die Einschätzung, dass diese Generation schlichtweg zu jung für substanzielle Erfahrungen in der Arbeitswelt sei. Zudem ergab die Analyse, dass 64 Prozent der befragten Probanden durchaus ein starkes Bedürfnis nach affektivem Commitment aufweisen. Der Begriff bezieht sich darauf, wie sehr ein Mitarbeiter im eigenen Unternehmen bleiben will. Doch wie gelingt es, die Generation Z zu rekrutieren oder emotional zu binden? Zu den «Muss-Kriterien» gehören gemäss Brademann und Rüdiger die persönliche Entwicklung, Sicherheit, Entlohnung, Transparenz sowie wertschätzender Umgang. Nicht gewünscht sind feste Strukturen im Unternehmen, Konkurrenzsituationen unter den Mitarbeitenden und feste Arbeitszeiten wie «9 to 5».

68 Prozent haben wenig oder keine Bindung

Wie stark sich die Angestellten ihrem Arbeitgeber zugehörig fühlen, erhebt auch das Beratungsunternehmen Gallup. Es untersucht im sogenannten Engagement-Index seit 2001 jedes Jahr die emotionale Verbundenheit der Beschäftigten in Deutschland. Die letzten zwei Jahre Pandemie hatten keine Auswirkung auf die Veranlassung der Mitarbeitenden, engagiert zu sein, halten die Autoren der Studie erstaunt fest. Der Prozentsatz der Engagierten liegt seit Jahren zwischen 11 und 17 Prozent (2020: 17 Prozent). Das heisst, rund 68 Prozent der Befragten haben keine oder eine geringe Bindung an das Unternehmen. Die Zahlen in der Schweiz dürften ähnlich sein. 

Umso wichtiger ist es, mit motivierender Führung dieser häufig verbreiteten «inneren Kündigung» entgegenzuwirken. Doch wie geht das – bei den Mitarbeitenden Commitment herstellen? Wir fragen nach bei einem schweizerischen Unternehmen, dem einige Mitarbeiter bereits seit 40 Jahren die Treue halten. Bei der familiengeführten Manufaktur Caran d’Ache in Genf bleiben die Beschäftigten durchschnittlich 13 Jahre lang. Die Frauen und Männer, die bei Caran d’Ache arbeiten, bezeichnet Natalie Toumpanos, Direktorin für Human Resources bei Caran d’Ache, als wichtigstes Kapital des Unternehmens. «Wir bemühen uns, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das Leistung und Wohlbefinden in einem Gleichgewicht hält und das den Familiencharakter unseres Unternehmens zum Ausdruck bringt.»

Dies bedeute, dass sie die Mitarbeitenden in den Mittelpunkt der Unternehmensstrategie stellten, da ihre persönliche Entwicklung und ihr Wohlbefinden die Grundlage für den Erfolg von allen seien. Zum Wohlbefinden tragen sicher auch die Gleichstellungspolitik und die Transparenz des Unternehmens bei: Caran d’Ache hat sich verpflichtet, eine Politik der Lohngleichheit zu verfolgen und engagiert sich durch konkrete Massnahmen wie etwa Selbstanalysen der Lohnpraxis. Natalie Toumpanos: «Wir haben positives Feedback vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann bezüglich der Gleichbehandlung bei den Löhnen erhalten und achten besonders auf die Einhaltung einer einheitlichen Vorgehensweise beim Talentmanagement und bei der Ausbildung.»

Die Azubi-Filiale

Immer mehr Arbeitgeber lassen sich einiges einfallen, damit sich die Belegschaft voll hinter das Unternehmen stellt und sich engagiert. Bereits bei den Allerjüngsten setzt zum Beispiel der Detailhändler Aldi Suisse an: Im Projekt «Lernendenfiliale» tragen die Auszubildenden eine Woche lang die Verantwortung für eine Filiale. Dabei organisieren sie von der Warenbestellung über die Personalplanung bis hin zum Kassendienst alles selbst – mit Unterstützung eines erfahrenen Filialleiters. Das Projekt wurde ins Leben gerufen, um den Lernenden eine Plattform zu bieten; um ihr Fachwissen zu vertiefen, das Erlernte ihrer Lehrzeit umzusetzen und voneinander zu profitieren.

Diese Wertschätzung des Engagements und der Glaube an die Fähigkeit der Lernenden lohnen sich. Bis jetzt sammelte Aldi ausschliesslich positive Erfahrungen damit: Die Azubis sorgten für einen reibungslosen Ablauf. «Wir beobachten jedes Jahr, dass die Lernendenfiliale unter unseren Auszubildenden eine starke Identifikation mit unserem Unternehmen bewirkt und sie mit Stolz erfüllt», sagt ein Sprecher der Medienstelle Aldi Suisse. «Die Lernenden übernehmen gern Verantwortung, sehen ihr gemeinsames Ziel vor Augen und haben Spass an den Aufgaben.»

Einen sehr hohen Grad an Selbstorganisation weisen Unternehmen auf, die holokratisch statt hierarchisch strukturiert sind. Dazu gehört neben der viel zitierten Firma Freitag auch die Digitalagentur Liip mit Büros in Bern, Basel, St. Gallen, Freiburg und Lausanne. Auch sie gibt an, die Menschen ins Zentrum zu stellen, und zwar auf eine besondere Weise, wie Nadja Perroulaz, Mitgründerin und Lead People bei Liip, erklärt: «Wir vertrauen den Menschen in ihren Rollen und schaffen maximale Transparenz.» Jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter bei Liip übernimmt in Rollen Verantwortung und hat innerhalb dieser Rolle Entscheidungsbefugnis – ohne Freigabe durch einen Vorgesetzten.

Agil auf Bedürfnisse reagieren

«Das holokratische Modell ist für Motivation und Engagement als zentrale Voraussetzung mitentscheidend», sagt Nadja Perroulaz. Liip folgt den Prinzipien der Agilität bereits seit 15 Jahren und hatte eine sehr flache Organisationsstruktur. 2016 entschied sich das Unternehmen für «Holacracy», weil es «das System ist, das sich am besten an Veränderungen anpassen und agil auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden und Kunden reagieren kann». Mit der Holokratie steht die Organisation von Arbeit und nicht von Menschen im Vordergrund. «In diesem Rollenmodell sind die Mitarbeitenden selbst dafür verantwortlich, dass sie im Unternehmen dort eingesetzt sind, wo sie den grössten Beitrag leisten können – für das Unternehmen und für sie selbst», sagt Nadja Perroulaz.

Die Möglichkeit, sich in vielen Bereichen einzubringen und weiterzuentwickeln, ist auch ein Grund, weshalb Giorgio Nadig, Product Owner, gerne bei Liip arbeitet. Die holokratische Ausrichtung ist ihm wichtig, denn «sie erlaubt mir, in meinen unterschiedlichen Rollen als Jurist absolutes Neuland zu betreten». In seinen Rollen bei Kundenprojekten schätzt er die Möglichkeit, selbst rasch Rahmenbedingungen schaffen zu können, damit sie den Bedürfnissen der Kunden optimal entsprechen. Darüber hinaus begrüsst er die fortschrittlichen Arbeitsbedingungen, die es ihm erlauben, Familie und Beruf optimal unter einen Hut zu bringen. Giorgio Nadig gefällt es besonders, dass das Organisationsmodell von Liip allen die Chance bietet, sich in vielen Bereichen einzubringen und weiterzuentwickeln und interdisziplinär im Team an innovativen Projekten zu arbeiten.

Freiwillig Gutes tun

Sich einbringen, aber nicht nur für das Unternehmen selbst, sondern für einen guten Zweck – diese Absicht verfolgen die Freiwilligenarbeitsprojekte von ganzen Mitarbeiterteams. Zum Beispiel für Pro Juventute: Die Non- Profit-Organisation ermöglicht es Firmen im Rahmen von Corporate Volunteering, inner- und ausserhalb der Arbeitszeit soziale Einsätze zu leisten. Mit dem Ansporn «Lassen Sie die Fähigkeiten Ihrer Mitarbeitenden doch einmal in einem komplett anderen Umfeld zum Einsatz kommen und schenken Sie uns die Zeit und das Fachwissen Ihrer Angestellten» motiviert Pro Juventute die Unternehmen, sich so für die Gesellschaft zu engagieren.

Dass sich die Motivation zur Freiwilligenarbeit und die Motivation, sich für eine Firma zu engagieren, ähneln, ergab eine Studie des Gottlieb Duttweiler Instituts zum Thema Freiwilligenarbeit. An der Studie hat Andreas Müller mitgearbeitet. Er ist heute Programmleiter «Neue Narrative» des Think + Do Tanks «Pro Futuris» der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (siehe Interview). «Wir haben drei Faktoren für die Motivation identifiziert: einen relativ autonomen Gestaltungsspielraum, eine soziale Zugehörigkeit zur Organisation und Wirksamkeit», sagt Andreas Müller. Diese drei Elemente sind seiner Ansicht nach Trends, die sich fast eins zu eins von der Freiwilligenarbeit auf die Arbeitswelt übertragen lassen. «Wer den Mitarbeitenden das Gefühl gibt, sich einzubringen und einen Unterschied machen zu können, erhält ein hohes, affektives Commitment von Mitarbeitenden zurück.»