«… dabei haben Finanzströme den grössten Hebel»

21.03.2023
1/2023

Wo Materialflüsse existierten, sei der Sinn des Umbaus von Geschäftsmodellen zur Kreislaufwirtschaft leicht erkennbar, sagt Oliver Brunschwiler von Freitag. Dabei hätten die Banken weit mehr Einfluss auf die gesamte Wirtschaft, wenn sie den Mut zum Wandel aufbringen könnten. Das passiere aber eben schneller in Unternehmen, die im Besitz einzelner Inhaber oder Familien seien als in anonymen Aktiengesellschaften.  

Herr Brunschwiler, Sie engagieren sich für das Kreislaufwirtschafts-Label Circular Globe. Gemäss Circularity Gap Report weist die weltweite Wirtschaft gerade mal einen Zirkularitätsgrad von 7,2 Prozent auf – in der Schweiz sind es sogar nur 6,9 Prozent. Wo liegen die Hauptprobleme, dass die Kreislaufwirtschaft noch nicht funktioniert?

Bei den meisten Geschäftsmodellen gibt es keine regulatorische oder wirtschaftliche Dringlichkeit und damit keinen Grund, Geschäftsmodelle zu wandeln. Dekarbonisierung ist immer noch ein Buzzword, die antizipierbaren Katastrophen sind noch nicht eingetroffen.

Warum sollen Unternehmen trotzdem darauf hinarbeiten, in Richtung Kreislaufwirtschaft zu gehen?

Weil jedes Unternehmen fit für die Zukunft gemacht werden kann. Es ist wichtig, das Thema als Potenzial zu entdecken, damit die nächste Generation schon warmgelaufen ist und weil mittelfristig sowieso kein Weg daran vorbeiführt.

Im Idealfall ist eine Firma von einem gut vermittelbaren Purpose gesteuert und nicht von einzelnen Persönlichkeiten.

Es gibt bereits Unternehmen, die sich engagieren. Warum tun sie das?

Viele eigentümergeführte Unternehmen sind der nächsten Generation verpflichtet, fühlen sich verantwortlich und verändern schneller – im Gegensatz zu Unternehmen mit vielen anonymen Shareholdern ohne direkte langfristige Verantwortung.

Welche Anreize für Unternehmen gibt es?

Zukunftsfähigkeit basiert auf dem Wettbewerb um Talente, also auf den Mitarbeitenden in den Unternehmen. Wenn sich eine Firma über ihre Werte definiert und Sinn stiftet, zieht das Menschen an, die den Wandel zur regenerativen Wirtschaft als Chance erkennen und somit eine Firma, Marke oder Organisation von sich aus weiterentwickeln möchten. Wenn ein Unternehmen seit Jahrzehnten gleich arbeitet und auch in Zukunft nichts an zum Beispiel den Materialflüssen ändern möchte, wird es im «Battle for talent» unterliegen.

Gibt es Branchen, die sich besser oder weniger gut für Kreislaufwirtschaft eignen?

Überall wo es Materialflüsse gibt, ist es einfacher und nachvollziehbarer, sich zu verbessern, als zum Beispiel im Dienstleistungsbereich. Banken suchen händeringend nach nachhaltigen Projekten und sinnstiftender Wirkung. Dabei haben Finanzströme und ihre Mechanismen den grössten Hebel. Es braucht Mut und Entschlossenheit, auch in dieser Industrie Geschäftsmodelle der Zukunft zu pilotieren.

Kreisläufe zu schliessen, sollte nicht nur ein Job sein, sondern etwas, was einen persönlich interessiert und intrinsisch motiviert.

Was kann die Führung zum Prinzip der Kreislaufwirtschaft beitragen?

Es ist eine kulturelle Frage, denn Führung heisst in erster Linie Inspiration, Vertrauen, Befähigung und die Pflege von Beziehungsräumen. Im Idealfall ist eine Firma von einem gut vermittelbaren Purpose gesteuert und nicht von einzelnen Persönlichkeiten. Durch den Purpose lässt sich eine präzise Strategie oder Roadmap ableiten, die der Organisation Direktiven in einer digitalisierten, transparenten Organisation aufgibt.

Bei Freitag funktioniert das so, Sie waren CEO und sind heute im Verwaltungsrat.

Ja, ich war der letzte «Company Leader» (siehe Box), das Pendant zum CEO in unserer Selbstorganisation. Wir haben die wichtigsten Aufgaben dieser Rolle mit einem Kollektiv besetzt: Fünf Personen teilen sich die Verantwortung und führen auf Basis ihrer unterschiedlichen Kompetenzen die einzelnen Bereiche der Firma zusammen.

Welches ist der Purpose von Freitag?

Intelligent design for a circular future. Es ist möglich, viel mehr intelligent zu designen, als wir uns vorstellen können: von der Organisationsform über den Produktionsprozess bis hin zum Material, im Interesse einer zirkulären Zukunft. Ein inspirierender Purpose sollte nahezu unerreichbar sein.

Wenn Organisationen Menschen machen lassen, Sicherheit und Vertrauen signalisieren, finden Veränderungen ‹bottom up› statt ‹top down› statt.

Das geht nur mit Mitarbeitenden, die das mittragen.

Ja, weil bei uns Sinnhaftigkeit in der DNA verankert ist, haben wir pro ausgeschriebene Stelle überdurchschnittlich viele Bewerber:innen. Viele fühlen sich von inklusiven Organisationsformen angesprochen und haben keine Lust auf klassische Hierarchien oder Gewinn als einzige Messgrösse.

Wie lässt sich das Prinzip der Kreislaufwirtschaft im Management anwenden?

Das Ziel, Kreisläufe zu schliessen, sollte nicht nur ein Job sein, sondern etwas, was einen persönlich interessiert und intrinsisch motiviert, und das kann man vorleben. Auch ich selbst habe mich über die Jahre gewandelt, das Bewusstsein für messbaren Impact im Sinne der nächsten Generationen ist gestiegen.

Was können KMU tun auf dem Weg zur Kreislaufwirtschaft?

Sie sollten in Produkte oder Services investieren, die heute aus rein wirtschaftlicher Sicht noch keinen Sinn machen.

Gibt es Beispiele dafür?

Es gibt Tausende von Produkten und Services mit Zirkularitätspotenzial. Manchmal geht es auch um Weglassen, zum Beispiel bei der Verpackungsindustrie. Lackierte und beschichtete Verpackungen zum Beispiel. Die Industrie könnte Produkte ohne Beschichtungen auf den Markt bringen und so den Zirkularitätsgrad erhöhen.

Projekte im Sinne einer nachhaltigen Zukunft zu initiieren und auch zu leiten, ist schon lange nicht mehr der Geschäftsleitung vorbehalten.

Weshalb geschehen solche Veränderungen nicht öfter?

Weil in den meisten Organisationen Mitarbeitende erst dann etwas verändern, wenn es die Chefetage initiiert oder wenn sie etwas «Disruptives» dazu zwingt. Wenn Organisationen Menschen machen lassen, Sicherheit und Vertrauen signalisieren, finden Veränderungen «bottom up» statt «top down» statt. Wir haben beispielsweise einen Prozess, in dem alle, passend zur aktuellen Strategie, Projekte vorschlagen können. Projekte im Sinne einer nachhaltigen Zukunft zu initiieren und auch zu leiten, ist schon lange nicht mehr der Geschäftsleitung vorbehalten.

Freitag sucht nach Lösungen, um Materialkreisläufe konsequent zu schliessen, indem man mit anderen Branchen an einer kreislauffähigen LKW-Plane arbeitet. Wie lässt sich dieser Ansatz auf andere Unternehmen übertragen?

Indem sie sich fragen: Was brauchen die Konsumenten wirklich? Könnten Konsument:innen auch zu Nutzer:innen werden? Welche Produkte lassen sich vermieten oder gar teilen? Welche Materialien lassen sich regenerieren? Und die wichtigste Frage: Mit wem könnte man kooperieren?

Offenbar ist es nötig, noch etwas weiterzudenken.

Ja, wenn man in die Thematik eintaucht, tut es richtig weh. Es geht nicht um das Produktdesign, sondern um das Gestalten von Prozessen. Um eine holistische Betrachtungsweise und offene Systeme.

Man könnte auch sagen, es tut so weh, dass man lieber gar nichts macht. Wo kann man ansetzen, um zu motivieren?

Indem man inspiriert und erfolgreich wirtschaftet. Es reicht nicht, wenn die Marketingabteilung eines Unternehmens von Kreislaufwirtschaft spricht und Greenwashing betreibt. Es geht darum, dass Unternehmen wirklich entsprechende Produkte und Services anbieten. Mobility ist ein gutes Beispiel, wie aus einem Potenzial ein Bedürfnis des Teilens erwachsen ist. Aber wirklich nachhaltig wäre ein Produkt oder eine Dienstleistung, die gar keinen Stau verursacht und auch keinen Platz in Städten frisst.

Für viele ist dieses Denken sehr visionär, und wir sind weit entfernt davon.

Ja, aber es muss immer jemand vorausgehen, mit unternehmerischer Energie überinvestieren, wie ein Startup agieren und mutige Ideen einfach mal durchziehen. Probieren, scheitern, etwas Neues erschaffen und letztlich nachhaltig erfolgreich gestalten, dann folgen andere. Ich habe Kinder und will nicht, dass mir ihre Kinder einmal vorwerfen: «Hey, du konntest noch Tiefschnee-Snowboarden. Warum hast du nicht mehr dafür gemacht, dass wir das auch noch können?»

Snowboarder mit Purpose

Als 17-Jähriger hatte Oliver das Glück, als professioneller Snowboarder die Welt zu erkunden, was ihn die folgenden Jahre zur Gründung einer Bekleidungsmarke und zum Aufbau einer digitalen Markenagentur führte. 2014 kam Oliver zu Freitag und prägte das Wachstum und die Transformation des Unternehmens aus verschiedenen Rollen heraus. 2018 wurde er in der holokratischen Organisation zum Lead Link ernannt, was in der hierarchischen Welt den Verantwortlichkeiten eines CEO entspricht. Ende 2021 hat er seine operativen Verantwortlichkeiten einem gewählten Führungskollektiv übertragen, um selbstorganisierte Weiterentwicklung zu fördern und die zirkuläre Transformation von Freitag und von anderen Organisationen und Marken zu beschleunigen.