
Das Fundament der Freiwilligkeit braucht Erneuerung
Das Milizsystem gilt als Basis des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolgsmodells Schweiz. Doch es steckt in der Krise. Wie kann es gestärkt werden?
«Ich glaube, das Milizsystem ist perfekt für unser Land; aber es erfordert Leute, die bereit sind, sich einzusetzen», sagt Ilias Läber. Das tut er: sich einsetzen – als Gemeindeammann von OberwilLieli, einer Aargauer Gemeinde mit 2500 Einwohnern. Das Amt im fünfköpfigen Gemeinderat beansprucht ihn acht bis zehn Stunden pro Woche. Dafür wird er mit einer Jahrespauschale von 24 000 Franken entschädigt.
Darauf angewiesen ist Läber wohl kaum, denn hauptberuflich ist er als gut entlöhnter Finanzexperte, Investmentstratege und Verwaltungsrat unterwegs. Warum er sich zusätzlich zu seinem eigenen happigen Pensum noch den bescheiden entschädigten Ammann antut? «Ich übernehme gerne Verantwortung, und mir macht es Freude, diese sinnvolle und interessante Tätigkeit auszuüben», antwortet er.
Dank einsatzwilligen Personen wie ihm funktionieren die meisten der rund 2200 Gemeinden dieses Landes. Das Milizprinzip gilt als eine der vier tragenden Säulen des politischen Systems der Schweiz, neben der direkten Demokratie, dem Föderalismus und der Konkordanz.
100 000 Milizionäre in den Gemeinden
Nach traditionellem Verständnis gilt dieses Milizprinzip sowohl für National und Ständeräte als auch für Kantons und Gemeinderäte. Tatsächlich werden auf Gemeindeebene die meisten behördlichen Aufgaben – Exekutive, Schulpflege, Sozialbehörde, Kommissionen, Wahlbüro und so weiter – durch Milizgremien wahrgenommen. Rund 100 000 Personen sind zurzeit auf diese Art tätig. Auch die örtlichen Feuerwehren und die Armee – gemäss Artikel 58 der Bundesverfassung – setzen auf das Milizprinzip.
Die Idee des Zivilisten, der sich zum Wehrdienst verpflichtet, ist sehr alt. Sie fusst auf dem in den antiken griechischen Stadtstaaten entwickelten Gedanken der Einheit von Bürger und Soldat. Die in der Schweiz verwendete spezifische Bezeichnung «Milizsystem» dagegen entwickelte sich erst zur Zeit des Ancien Régime. Das neue Recht auf demokratische Mitbestimmung im Gemeinwesen für alle ging Hand in Hand mit dem Auftrag, dieses zu verteidigen. Ausserdem wurde die gegenseitige Bürgerhilfe als republikanischer Wert proklamiert, um ein nationales Selbstverständnis und eine kommunal organisierte Republik aufzubauen.
Der Freiwilligeneinsatz ist sozusagen der fruchtbare Boden der politischen Milizarbeit. Rund drei Millionen Menschen engagieren sich gemäss Erhebungen von Benevol, der Fachstelle für Freiwilligenarbeit, aus freien Stücken fürs Gemeinwohl, und zwar in kulturellen und kirchlichen Organisationen oder in sonstigen Projekten. Zusammen leisten sie über 700 Millionen Stunden Freiwilligenarbeit im Wert von 35 Milliarden Franken. Das entspricht mehr als fünf Prozent des schweizerischen Bruttoinlandproduktes.
Das «Erfolgsmodell» und die Miliz
Seit Entstehung des Milizsystems sind knapp zweihundert Jahre verstrichen. Die Schweiz hat sich
in dieser Zeit vom rückständigen Hirten und Bauernland zu einem reichen und fortschrittlichen Wohlfahrtsstaat entwickelt. Das Milizsystem wird bis heute als wesentlicher Stützpfeiler des Erfolgsmodells Schweiz idealisiert. «Die vielen Nachteile, welche die Schweiz als kleines Land hat, dreht das Milizsystem in einen Vorteil», schrieb Markus Hongler, CEO der Mobiliar, kürzlich in einem Gastbeitrag in der NZZ.
Aus der Milizmentalität heraus sind besondere Werte entstanden. Zum Beispiel gibt es in der Schweiz keine abgehobene Politikerkaste. Mit den Laienpolitikern fliesst automatisch deren berufliches Wissen in die Milizarbeit, was eine pragmatische, lösungsorientierte Sachpolitik begünstigt. Zudem lassen sich öffentliche Aufgaben im Milizsystem günstiger erledigen. Fehlt es an Milizarbeitswilligen, muss die öffentliche Hand übernehmen, und die Staatsquote steigt. Christoph Niederberger, Direktor des Schweizerischen Gemeindeverbandes (SGV), meint knapp und bündig: «Das Milizsystem aktiviert das Verantwortungsbewusstsein fürs Gemeinwohl, hält den Staat schlank und fördert die Nähe zu den Bürgern.»
Die vielen Nachteile, welche die Schweiz als kleines Land hat, dreht das Milizsystem in einen Vorteil.
Aber fast alle Institutionen, die sich auf das Miliz system abstützen, klagen über Mitgliederschwund. Oder sie haben sich, wie der National und Ständerat, bereits schleichend davon verabschiedet. Die Berner SP Nationalrätin Flavia Wasserfallen meint: «Seien wir ehrlich: Das Milizsystem ist, zumindest auf nationaler Ebene, ein Mythos. Wer im Parlament seriös arbeiten will, braucht ein Pensum von mindestens 70 Prozent. Nebenbei noch 80 Prozent oder mehr arbeiten? Geht nicht!» Dem wird länger schon Rechnung getragen: Mit den Sitzungsgeldern und Spesen können die Parlamentarier inzwischen einen wesentlichen Teil ihrer Existenz bestreiten.
Semiprofessionelle Politik
Die Bundesversammlung ist mindestens zum semiprofessionellen Berufsparlament geworden. Ein Ratsmandat scheint attraktiv, wie die Rekordzahl von 4652 Nationalratskandidaten im Herbst 2019 bewiesen hat. Nachwuchssorgen, wie die meisten anderen Bereiche des Milizsystems, hat das Parlament keine.
Zwei Drittel aller Gemeinden dagegen haben gemäss einschlägiger Studien grösste Mühe, vakante Milizämter mit geeigneten Leuten zu besetzen. Es häufen sich «Scheinwahlen», bei denen es gerade so viele Bewerber wie zu vergebende Ämter gibt. Der Mangel treibt die Gemeinden dazu, die Ämtertätigkeit zu professionalisieren. Mittlerweile werden annähernd 70 Prozent der kommunalen Exekutivmitglieder für ihr Amt mit mindestens 10 000 Franken jährlich entschädigt. Lupenreine Milizarbeit wird auf Gemeindeebene allenfalls noch in der Legislative und in den Kommissionen geleistet.
Mit der Professionalisierung wird das Milizsystem jedoch nicht gestärkt, sondern faktisch abgeschafft. «Letztlich entreisst man der lokalen Demokratie auf diese Weise die Laienseele», warnt der Politologie Professor Markus Freitag (siehe auch Gespräch
ab Seite 10). Vor allem kleinere Gemeinden wie zum Beispiel Simplon (VS) haben das Problem auch schon auf denkbar einfachste Art gelöst: Sie zwingen ihre Bürgerinnen und Bürger zur Amtsübernahme. Laut Gesetz gilt in sieben Kantonen (LU, UR, NW, AI, SO, ZH, VS) und in gewissen Berner Gemeinden der Amtszwang: Wer gewählt wird, auch wenn er gar nicht kandidiert hat, muss antreten.
Die Wirtschaft ist gefordert
Unbestritten profitiert auch die Schweizer Wirtschaft von einem Ökosystem, das nur funktionieren kann, solange das Milizsystem funktioniert. Doch die Globalisierung fordert hier ihren Tribut: Die Kader internationaler Konzerne begegnen dem Milizsystem, weil sie es nicht wirklich kennen, zunehmend mit Unverständnis. Die Hälfte der Unternehmen zeigt jenen Mitarbeitenden, die sich in Milizämtern engagieren, die kalte Schulter, so das Ergebnis einer breit angelegten Studie zur Milizarbeit in der Schweiz. Lediglich 15 Prozent der Konzerne unterstützen ein entsprechendes Engagement mit einer bezahlten Freistellung. Immerhin 29 Prozent erlauben ihren milizpolitisch tätigen Angestellten, ihre Arbeitszeit freier einzuteilen.
Viele grosse Konzerne berufen sich auf ihren jährlichen Obolus an die Parteien, mit dem sie schliesslich auch Milizarbeit unterstützen würden. Doch allein damit ist es natürlich nicht getan. «Wir müssen das Milizsystem aktiv mitgestalten und uns bei dessen Modernisierung direkt engagieren», mahnt Mobiliar Chef Markus Hongler. Die Wirtschaft hätte es in der Hand, ihren Mitarbeitenden grosszügige Rahmenbedingungen zu bieten, sodass sich berufliches und milizpolitisches Engagement besser vereinbaren lassen.
Zumindest im Falle der Mobiliar ist dies mehr als ein Lippenbekenntnis. Beim Versicherungskonzern engagieren sich über 100 Mitarbeitende in öffentlichen Ämtern. Zum Beispiel der frisch gewählte Appenzeller Nationalrat Thomas Rechsteiner, der als Generalagent in seiner Agentur nun verschiedene organisatorische und personelle Massnahmen ergriffen hat, um dem politischen Mandat gerecht zu werden.
Das Milizamt erschliesst einen positiven Kreislauf, in dem beide Seiten
von einander profitieren.
Die Mobiliar stellt Mitarbeitenden, die politische Mandate ausüben, Arbeitszeit und Infrastruktur zur Verfügung – und zwar ohne Blick auf die Parteifarbe. «Diese Mitarbeitenden sind Brückenbauer zwischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Und sie bringen unserem Unternehmen einen Mehrwert», betont Belinda Walther, Leiterin Public Affairs. So erlebt es auch Manuela Jost, die seit September 2018 im Gemeinderat von Beromünster das Bildungsressort verantwortet. «Offiziell ist das Mandat als 35Prozent Pensum eingestuft, der effektive Aufwand liegt bei 40 bis 50 Prozent», sagt sie. Trotzdem schafft es die Mutter schulpflichtiger Kinder, alles – Familie, Beruf und Gemeinderätin – unter einen Hut zu bringen, dank der Unterstützung ihres Ehemannes und des Arbeitgebers. Ihren 50ProzentJob bei der Mobiliar konnte sie nach der Wahl auf 30 Prozent reduzieren, bei flexibler Arbeitszeit. In ihrer politischen Aufgabe erweist sich die Führungsausbildung, die sie als Leiterin Verkaufssupport absolvieren durfte, als hilfreich. Jost ist umgekehrt überzeugt, dass der neue politische Blickwinkel und ihre Amtserfahrungen wieder zurück zur Mobiliar fliessen werden, und spricht von einer Winwin-Situation. «Das Milizamt erschliesst einen positiven Kreislauf, in dem beide Seiten, also Gemeinde und Arbeitgeber, voneinander nur profitieren.»
Vielfältige Reformbemühungen
Auch wenn das Beispiel der Mobiliar viele Nachahmer finden sollte, die Frage bleibt: Wie lässt sich das Milizsystem reformieren, sodass es attraktiv und zukunftsfähig bleibt?
Allein mit Wortkosmetik, bei der nicht mehr vom Milizsystem, sondern vom «zivilgesellschaftlichen Engagement» gesprochen wird, kommen wir wohl nicht weiter. Markus Freitag schlägt fünf Handlungsfelder vor, bei denen man bei einer Reform ansetzen sollte: Zwang, Anreiz, Organisation, Information, Ausbildung. Damit ist auch angedeutet: Die einfache Formel zur Belebung des Milizwesens gibt es nicht. Viel eher wird ein Bündel von Massnahmen die Lösung bringen. Dazu gehörten die Rekrutierung von möglichen Amtsträgern, die berufs- und familienfreundliche Ausgestaltung der Ämter und die Neuorganisation der Kommunen und Behörden.
Curdin Derungs, Professor für Verwaltungsmanagement an der FH Graubünden, plädiert zudem für einen Kulturwandel, der mehr Wertschätzung für die Milizarbeit aufbringt. «Die Dauerkritik aus der Bevölkerung, womöglich aus anonymen Schützengräben von Social Media, lässt viele Leute nur noch zögerlich ein politisches Amt übernehmen.»
Die Dauerkritik aus der Bevölkerung, womöglich aus anonymen Schützengräben von Social Media, lässt viele Leute nur noch zögerlich ein politisches Amt übernehmen.
Eine Schlüsselposition kommt bei der Reform den Gemeinden zu, doch «letztlich sind wir dabei alle gefordert, die Zivilgesellschaft, die Wirtschaft und der Staat», sagt Christoph Niederberger. Erfreulicherweise gehen die Diskussionen, die der Schweizerische Gemeindeverband (SGV) und der Dachverband Schweizer Jugendparlamente (DSJ) 2019 mit dem «Jahr der Milizarbeit» angestossen haben, im laufenden Jahr weiter. Sie finden konkret Niederschlag etwa im Förderprojekt «engagement lokal». Fünfzehn bedeutende Organisationen leisten dabei Anschubfinanzierung für innovative Strategien und Projekte des freiwilligen Engagements vor Ort. In ähnliche Richtung zielt die vor drei Jahren initiierte Plattform «staatslabor», die mittels Pilotprojekten, Events und Fallstudien das Bürgerengagement bei öffentlichen Aufgaben stärken möchte.
Die SKO schliesst sich diesen Bemühungen an. Speziell plant sie in einem Joint Venture mit dem SGV eine Zertifizierung der Gemeinderäte bzw. der im Milizamt erworbenen Führungskompetenzen. Im Raum steht auch die Initiative des Westschweizer Vereins ServiceCitoyen.ch zur Einführung einer (Miliz)Dienstpflicht. Dabei könnte jede/r frei wählen, ob er sich bei der Feuerwehr, in Vereinen, im Gemeinderat, im Zivil oder Militärdienst engagieren möchte. Die Chancen, dass das Zwillingspaar «Milizsystem» und «Erfolgsmodell Schweiz» sich wieder näherkommt, sind intakt. Die Ansätze dazu aber enthalten einen Wermutstropfen: «Praktisch jede Reformmassnahme kratzt am alten Ideal des Milizwesens», gibt Markus Freitag zu bedenken.