«Das geht nur mit klarer Struktur und Prioritäten»

21.06.2023
2/2023

Ein junges Landwirtepaar möchte im Einklang mit der Natur leben und arbeitet seit zehn Jahren an seiner visionären Idee eines Zentrums der Nachhaltigkeit für Tiere, Pflanzen und Menschen.

Frau Mottier, Ihr Projekt «Votre Cercle de Vie» ist schon fast visionär. Was hat Sie dazu inspiriert?

Die Natur. Mein Mann und ich sind sehr naturverbunden aufgewachsen. Ich war als Kind oft krank und interessierte mich schon früh für Heilpflanzen. Die Wunderwelt der Natur, aber auch die Probleme der Welt haben mich als junges Mädchen sehr beschäftigt. Als ich mit 19 meinen Mann kennenlernte, diskutierten wir tage- und nächtelang darüber.

Herr Mottier: Warum haben Sie sich für diesen Weg eines Biobauernhofs anstelle eines konventionellen Betriebes entschieden? 

Ich wusste, dass ich den Bauernhof meiner Eltern übernehmen werde. Meine Frau und ich suchten gemeinsam nach Wegen, wie wir den Betrieb gestalten wollten. Wir sind Landwirte in der Transition. Wir möchten die Menschen zurück zur Natur begleiten. Es geht darum, dem Leben Sorge zu tragen. Wir wollen den Bauernhof mit verschiedenen Puzzleteilen erweitern: mit Gesundheitsangeboten, Restaurant, Hotellerie. Wir möchten mit unserem Projekt den Zugang zur Natur ermöglichen und das Vertrauen zur Landwirtschaft stärken. Ab 2008 schauten wir uns inspirierende Projekte in Europa an, von der kleinen Bauernbeiz bis zum Fünfsternehotel.

Was ist das Wichtigste, wenn man die Interessen so vieler verschiedener Parteien miteinbeziehen muss?

Die Transparenz. Es ist wichtig, den Leuten zu erklären, was wir machen: Bei der Kreislaufwirtschaft arbeiten wir wie die symbiotischen Systeme in der Natur. Wir wollen nicht eine in erster Linie gewinnorientierte Firma aufbauen. Es braucht Gewinne, aber es geht dir selbst immer nur so gut wie deinem Feld. Das wollen wir erlebbar machen. 

Welches sind die wichtigsten Partner?

Eine wichtige Partnerschaft ist Romande Energie. Gemeinsam haben wir Round-Table-Anlässe organisiert, an denen wir mit Leuten aus verschiedenen Branchen Ideen gesammelt haben. Ein anderer Partner ist die Druckerei Vögeli, die weltweit einzige Druckerei mit einer «Cradle to Cradle»-Gold-Zertifizierung. 

Es geht dir immer nur so gut wie deinem Feld. Das wollen wir erlebbar machen.

Nicolas Mottier

Was hat ein Bauernhof mit einer Druckerei zu tun?

Beide Firmen setzen sich für einen sorgsamen Umgang mit der Natur und ihren Ressourcen ein. Gerne arbeiten wir in Projekten wie zum Beispiel einem Wurstkurs für die Schüler der internationalen Schule JFK zusammen. Sie legt selbst grossen Wert auf Nachhaltigkeit. Vögeli macht die nachhaltige Verpackung, und das Fleisch stammt von unseren Tieren. Bei den 150 Kindern dieser Eliteschule ist der Workshop sehr beliebt.

Frau Mottier, wie wichtig ist bei dieser Fülle an Themen eine gute Führung?

Die grösste Herausforderung ist, den Überblick über das Ganze zu behalten. Ich habe die Verantwortung für das Team. Die Fäden laufen in alle Himmelsrichtungen, und ich muss sie zusammenhalten. Das geht nur mit klarer Struktur und dem Setzen von Prioritäten. Wenn neue Leute mit viel Enthusiasmus dazukommen und selbst neue Ideen haben, können wir nicht alle gleich umsetzen. Die Zeit muss reif dafür sein. Das ist nicht immer einfach. Neue Mitarbeiter oder Partner werfen einen Moment lang Wellen. Das Projekt muss aber im Ganzen stabil bleiben.

Wie schafft man das, welcher Teil ist zentral?

Der Bauernhof, denn er geht Hand in Hand mit den Bioläden, weil wir viele Produkte selbst produzieren. Bei uns leben Tiere von seltenen Rassen von ProSpecieRara: Rund 35 Kühe, 20 Stück Jungvieh, Schafe, Ziegen, Schweine, Kaninchen, Hühner und Enten, Hunde und Katzen. Aktuell erweitern wir unsere Hochstamm-Obstanlage, pflanzen Hecken für Beeren und experimentieren mit Permakultur. Aus der Gülle der Kühe wird Biogas für die Stromerzeugung entstehen.

Das alles soll auch nach aussen wirken.

Ja, wir haben auch Ausstellungen und Expertenvorträge zu Gesundheit, Kreislaufwirtschaft und nachhaltigem Bauen geplant. An Round Tables können die Leute Fragen stellen und sich einbringen. Mit dem regionalen Park erstellen wir einen «Nachhaltigkeitsweg», wo die Besucher hinter unsere Kulissen blicken können und mehr über Themen wie Biodiversität, Foodwaste und nachhaltiges Bauen erfahren. Für die Inhalte arbeiten wir auch mit der Berner Fachhochschule zusammen, die seit Kurzem einen Master in Kreislaufwirtschaft anbietet. Auch die Ingenieure von Romande Energie liefern dafür laufend neue Zahlen.

Ausserdem nehmen Sie den Bau des neuen Gebäudes in Angriff – wer hilft mit?

Die technische Planung liegt bei Romande Energie. Für die Bauführung arbeiten wir mit der Baufirma Grisoni zusammen, die ihr Geschäftsfeld neu auf die Themen Holzbauten, Lehmbau und Rückgewinnung von Aushub erweitern will. Beide Partner leben eine menschliche Geschäftspolitik. Das ist ermutigend und wertvoll.

Das alles kostet …

Es sind um die 40 Millionen Franken zu finanzieren. Wir sind auch hier daran, unser Netzwerk zu erweitern, zu privaten Mäzenen, Stiftungen und Sponsoren. Das Projekt muss auch für die jeweiligen Partner eine Leuchtkraft haben.

Frau Mottier, Sie müssen ganz vieles im Blick behalten.

Ja, es ist ein feines Zusammenspiel von vielen unterschiedlichen Bereichen. Ich bin stets am Jonglieren, um die Bälle in der Luft zu halten. 

Was sind die grössten Hürden?

Die Komplexität. Dadurch ist es eine Herausforderung, wenn neue Elemente dazukommen, wie die Politik oder Stiftungen. Es ist sehr «tough», das Projekt auf eine Sprache herunterzubrechen, damit es das Gegenüber verdauen kann. Bei den potenziellen finanziellen Partnern ist es nötig, das Projekt in kurzer Zeit so vorzustellen, dass es Interesse weckt. Bei der Kreislaufwirtschaft braucht es die Bereitschaft, sich für ein anderes Weltbild zu öffnen.

Ich habe mich entschieden, daran zu glauben. Es ist eine innere Haltung, mutig voranzugehen.

Esther Mottier

Sie arbeiten seit zehn Jahren an diesem Projekt. Woher nehmen Sie den langen Atem, um dranzubleiben?

Es gibt schwierige und lange Tage. Sehr motivierend sind die vielen inspirierten Menschen und ihre Reaktionen. Viel Kraft geben uns kleine Auszeiten in der Natur, auf der Wiese, bei den Kühen. Oder der hoffnungsvolle Blick unserer drei Kinder, die darauf vertrauen, dass wir an der Zukunft arbeiten.

Es gibt auch Unternehmen, die erst anfangen, in Richtung Nachhaltigkeit zu gehen. Welche Inspiration geben Sie ihnen mit auf den Weg?

Ich verstehe, wenn Firmen vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen. Ein Leitsatz hilft: Es muss im Dienst des Lebens sein. Wichtig ist, immer ressourcenorientiert zu bleiben. Es ist ermüdend für das Team und die Führungsperson, immer nur zu versuchen, Fehler auszumerzen. Sie dürfen auch auf dem bereits Erreichten aufbauen.

Frau Mottier, zweifeln Sie nie daran, dass Sie das Projekt umsetzen?

Nein, ich habe mich entschieden, daran zu glauben. Es ist eine innere Haltung, mutig voranzugehen. Man muss aber lernen, im Moment zu bleiben und nicht heute die Probleme von übermorgen zu lösen. Denn mit den Herausforderungen von heute haben wir genug zu tun.

Ein visionäres Projekt

Esther und Nicolas Mottier leben im Dorf Château-d’Oeux auf 958 Metern über Meer und haben drei Kinder im Alter vom Kleinkind bis zum Teenager. Die Familie bewirtschaftet einen Biobauernhof, betreibt zwei Bioläden, ein Bed and Breakfast, eine Brockenstube und eine naturheilkundliche Praxis. Ihr Projekt «Votre Cercle de Vie» (Ihr Lebenskreis) geht noch viel weiter. Geplant sind eine Weiterentwicklung zum Demeter- und Permakultur-Bauernhof, eine Bildungsstätte, ein Zentrum für Naturheilkunde, ein holistisches Restaurant sowie ein Hotel mit 22 Zimmern. Die beiden neuen Gebäude sind als nachhaltige Bauten aus Holz und Lehm mit Dachbegrünung geplant. Im November 2022 ist das Hotelprojekt mit dem Innovationspreis von GastroSuisse ausgezeichnet worden.