Die Avocado-Battle im Urban Garden

15.09.2020
3/2020

Ob Topfpflanze im Wohnzimmer, Tomatenzucht auf dem Balkon oder der Park neben dem Büro: Grüne Flecken breiten sich in der Stadt stetig aus. Dabei gelangen uralte Erfindungen wie das Hochbeet zu neuen Ehren.

Meine Freundin zeigt mir nicht stolz den von ihrer Grossmutter geerbten Designerstuhl, als ich sie in ihrer Wohnung besuche, sondern ihr gut ein Meter hohes Prachtexemplar von Avocadopflanze. In meinem Bekanntenkreis ist eine regelrechte Battle darüber ausgebrochen, wer es mit dem «Ziehen» am meisten draufhat. Die Avocadopflanze – oder mehr noch das Pflanzen an sich – ist zum Tamagotchi und zum beliebten Partygesprächsthema avanciert: Voll in die Sonne oder doch lieber an den Halbschatten? Wie viel Giessen ist zu viel? Die Rede ist dann plötzlich von empfindlichen Tomaten und wucherndem Basilikum. Dabei gilt die Devise: Mehr ist mehr. Und das obwohl oder gerade weil die wenigsten von uns über einen Garten verfügen.

Dies in einer Zeit, in der Grünraum in der Stadt oder in Überbauungen wie dem Circle am Flughafen Zürich nicht mehr als Ergänzung, sondern als zentraler Bestandteil integriert wird. Mit seinen 80 000 Quadratmetern Fläche und einer Art Wasserspiel zuoberst zielt der Circle darauf ab, die Erholung im Grünen in unmittelbare Nähe zur Arbeit in die Stadt zu bringen. Das entspricht einem Bedürfnis, weiss die Hochschule für Technik in Rapperswil: «Es werden gerade auch diejenigen Grünräume genutzt, die sich in der Alltagsumgebung befinden. Naherholungsgebiete haben einen grossen Pluspunkt gegenüber weiter entfernten Ausflugszielen – nicht zuletzt, weil man nach Feierabend weniger mit dem Auto ins Grüne fahren muss», sagt Lea Ketterer, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Co-Autorin der Studie.

Mittlerweile halten die ‹Plantfluencer› ihr Grünzeug in die Kamera.

Sara Lisa Schäubli, NZZ Bellevue

Dass Pflanzen in sind, das verdeutlichen Social-Media-Plattformen wie Instagram. Begrünte Räume und Balkone werden unter Hashtags wie «#urbanjungle» zu Statussymbolen im virtuellen Raum; die Zahl der Beiträge liegt in Millionenhöhe. Laut NZZ Bellevue sind «Petfluencer» (Influencer mit Haustierthemen) dabei schon wieder Schnee von gestern: «Mittlerweile halten die ‹Plantfluencer› ihr Grünzeug in die Kamera.» Und auch wenn es eindeutige Pflanzentrends gibt – scheint es eher nebensächlich zu sein, ob es sich bei den Sprösslingen um heimisches Gemüse oder exotische Topfpflanzen handelt.

Schon etwas anders sieht das bei denjenigen aus, welche die ernste Form des Urban Gardening betreiben. Während die «Plants of Instagram» eher die Wohnung verschönern, allenfalls sogar Namen tragen und gefälligst nicht sterben mögen, geht es beim urbanen Gärtnern noch einen Schritt weiter: Hier rückt die Nachhaltigkeit ins Zentrum.

Ausdruck davon ist das Hochbeet; ein Gartenklassiker, der auf dem Jahrtausende alten Hügelbeet basiert und es nun auch auf die städtischen Terrassen geschafft hat. Die Gründe dafür sind klar: Der Platz in den Städten ist knapp bemessen. Daneben birgt das Pflanzen auf Hüfthöhe aber auch noch andere Vorteile: Das mühsame Bücken fällt weg, die Saat ist Schädlingen und Samenflug weniger ausgesetzt und die von der Sonne und der Verrottung von unten aufgewärmte Erde kann früher bepflanzt werden.

«Tatsächlich ist das Hochbeet für die Stadt die beste Lösung», bestätigt Scarlet Allenspach von Urban Roots, der Schweizer Trendplattform für urbanes Gärtnern. Natürlich ist darum längst ein Markt entstanden: Schreiner verkaufen Rahmen in Massanfertigung, Gartencenter bieten von der steingefertigten Kräuterspirale bis zum Beet aus recyceltem Kunststoff jede Variante, und auf bauhaus.ch findet man eine Anleitung zum Hochbeetbasteln – nachhaltig auf Basis ausgedienter Europaletten, versteht sich.

Wer weiss noch, wie die Kartoffel als Pflanze aussieht?

Scarlet Allenspach, Urban Roots

Dabei ist Urban Gardening auch als Begriff nichts Neues. In der Weltwirtschaftskrise der 1930er- und 1940er-Jahre etwa bauten Millionen städtischer Amerikanerinnen und Amerikaner zur Nahrungsmittelsicherung ihr Gemüse in Hinterhöfen und Vorgärten an. Der Begriff «urban agriculture», der die öffentlich zugängliche Variante der Landwirtschaft in der Stadt meint, stammt aus dem New York der 1970er-Jahre. Einer der ersten bekannten Gärten war der Liz Christy Community Garden, der gegen die Verwahrlosung in New York angelegt wurde. Zweck dieser Spielart des Urban Gardening war es, sozialen Missständen zu begegnen.

Gegenwärtig trete der Selbstversorgungsaspekt gegenüber anderen in den Hintergrund, sagt Scarlet Allenspach. «Salat muss man zwar keinen mehr kaufen, wenn man über einen Balkongarten verfügt, aber man darf sich auch nichts vormachen»: Von einem Balkongarten allein liesse es sich kaum leben. Letztlich gehe es beim Urban Gardening um einen achtsamen Umgang mit der Natur und der Lebensmittelproduktion und darum, Begegnungsräume zu schaffen: «Die meisten unserer Kunden kommen mit dem Bedürfnis zu uns, mehr zur Natur zurückzufinden. Wo kommt unsere Nahrung eigentlich her? Das Wissen darum ist in den letzten 50 bis 100 Jahren sukzessive verloren gegangen. Oder wer weiss heute noch, wie eine Kartoffel als Pflanze aussieht? Dort, wo der Zugang zu diesem Wissen fehlt, möchten wir auf eine sehr niederschwellige Art helfen.» 

 

Urban-Gardening-Startpunkte

Wer sich über die Möglichkeiten für heimisches Gärtnern ein Bild machen möchte, findet beim Netzwerk Urban Roots (www.urbanroots.ch) Unterstützung. Es widmet sich Neulingen, die den Start ins urbane Gärtnern wagen möchten; sei es durch Beratung, den Onlineverkauf von biologischem Saatgut oder Workshops. Ausserdem sorgen in vielen Städten lokale Vereinigungen für eine Förderung des Gartenbaus, wie urbanagriculturebasel.ch in Basel, neugarten.ch in Luzern, vegandthecity.ch und stadiongarten.ch in Zürich oder geneve.ch/fr/faire-geneve/jardiner-chez in Genf.