Die Kraft der Verletzlichkeit

03.03.2022
1/2022

Vertrauen ist ein echter Alleskönner: Es verbindet Menschen, die miteinander den Tisch, das Bett, das Leben, die Freizeit oder Hobbys teilen. Es verbindet im besten Fall auch die Chefin mit dem Angestellten oder den Patron mit dem Team. Doch wie entsteht Vertrauen überhaupt? Kann man es lernen, und wie gehen die verschiedenen Stakeholder mit dem Thema Vertrauen in der Praxis um?

Je unsicherer die Zukunft erscheint, je stärker die Gesellschaft auseinanderdriftet und je häufiger die Menschen im Homeoffice arbeiten, umso wichtiger ist das Vertrauen. Es ist auch die Währung der Stunde, wenn es darum geht, die Mitarbeitenden zu Verbündeten zu machen. Wer vertraut, schenkt dem Gegenüber Vertrauen und erhält es im besten Fall wieder zurück. Idealerweise haben beide Seiten ein Interesse daran und machen sich damit ein Stück weit im besten Sinne voneinander abhängig. Der Begriff Vertrauen entwickelte sich aus dem Wort «trauen», was ursprünglich «glauben, hoffen, zutrauen» bedeutete.

Eine intime Angelegenheit offenbar, bei der es auch darum geht, die Kontrolle zeitweise aus der Hand zu geben und sich dem anderen auszuliefern – zumindest ein Stück weit. So sieht es auch Vertrauens- und Organisationsforscherin Antoinette Weibel, Professorin an der Universität St. Gallen: «Vertrauen ist der Wille, sich verletzlich zu zeigen: Auf andere Menschen einzugehen in einer Situation, in der ich nicht alles absichern kann.»

Darin liegt auch gleichzeitig die Schwierigkeit. Denn: «Wir haben unsere Führungskräfte bis anhin nicht danach ausgewählt, wie sehr sie bereit waren, sich verletzlich zu zeigen. Eher danach, wie heroisch sie sind.» Das Thema Vertrauen weckt seit einigen Jahren ein höheres Interesse als früher, betont Weibel, die seit 20 Jahren in diesem Bereich forscht. Unter anderem haben Antoinette Weibel und ihr Team im Projekt «Agiles Performance-Management» einen Safety-Climate-Barometer entwickelt, in dem Vertrauen eine wichtige Komponente ist.

Die Forscherin spricht von drei Kriterien, um festzustellen, wie vertrauenswürdig ein Mensch ist: Kompetenz, moralischer Charakter und die Beziehung zu dieser Person. Letzteres wird oft von einer gegenseitigen Sympathie getragen. Diese Faktoren gelten für jede Art von Vertrauensbeziehung, sei es eine freundschaftliche oder sei es das Vertrauen vom Vorgesetzten in die Mitarbeitenden oder umgekehrt. Vertrauensbildung kann auch sehr schnell stattfinden, wie Antoinette Weibel erklärt: «Lange sind wir davon ausgegangen, dass sich Vertrauen nur langsam aufbaut. Aber sehr häufig spielen erste Begegnungen und Einschätzungen eine grosse Rolle.» Diese Erkenntnis sei spannend für Unternehmen. Gemäss Weibels Ansicht wenden viele von ihnen nicht immer genug Sorgfalt für ihre Personalrekrutierungsmassnahmen auf.

Die Mitarbeitenden sollen spüren, dass es die Unternehmensführung und die Vorgesetzten gut mit ihnen meinen.

Pascal Loepfe-Brügger, Geschäftsführer Appenzeller Alpenbitter AG

Wer umsichtig auswählt, kann von langjährigen Arbeitsbeziehungen profitieren. Ein Paradebeispiel dafür ist die Appenzeller Alpenbitter AG. Zwar ist die Mischung der 42 Zutaten des Kräuterlikörs gemäss Angaben auf der Website geheim und nur zwei Mitgliedern der Gründerfamilie bekannt. Doch grundsätzlich wird das Vertrauen sehr grossgeschrieben. Etliche der 40 Mitarbeitenden halten dem Arbeitgeber seit vielen Jahren die Treue. Auf die Frage, was die wichtigsten Voraussetzungen sind, um in einem Unternehmen Vertrauen zu schaffen, antwortet Geschäftsführer Pascal Loepfe-Brügger mit einem Zitat des Dichters Volkmar Frank: «Ohne Ehrlichkeit kein Vertrauen, ohne Vertrauen keine Zusammenarbeit».

Dieser Satz bringe es auf den Punkt, doch darüber hinaus seien auch Fairness, Seriosität und Transparenz wichtige Voraussetzungen. «Die Mitarbeitenden sollen spüren, dass es die Unternehmensführung und die Vorgesetzten gut mit ihnen meinen.» Dazu sei wichtig, dass die Vorgesetzten Vorbilder sind – dann reife die Erfahrung der Mitarbeitenden zur Gewissheit: «Sie können vertrauen.» Unter diesen Voraussetzungen könnten sich die Mitarbeitenden «mit dem Unternehmen identifizieren, voll mitziehen» und würden auch lange im Team bleiben, wie es der Enkel des Firmengründers formuliert.

Vertrauen schaffen durch Vorbildfunktion – davon überzeugt ist auch Leutnant Rico Fontana. Der 20-jährige Durchdiener bei der Schweizer Armee leistet derzeit seinen Dienst im Katastrophenhilfe-Bereitschaftsverband und führt in seinem Zug auch Leute, die älter sind als er. Die grössten Herausforderungen seien für ihn dabei die unterschiedlichen Menschen im Zug, von denen alle ihren eigenen Rucksack, unterschiedliche Erfahrungen, Mentalitäten, Erziehungserfahrungen und soziale Hintergründe mitbringen würden. «Zu Beginn kennen wir uns nicht. Wir müssen uns zu einem Team entwickeln, das funktioniert», sagt der Leutnant.

Wie geht das? Der Zugführer weiss: «Faktoren eins und zwei sind Ehrlichkeit und Offenheit, um das gegenseitige Vertrauen aufzubauen.» Damit das gelinge, sollten Vorgesetzte fachliche Kompetenz und Erfahrung weitergeben – dies vor allem auch in schwierigen Situationen, mit denen die Rettungsgruppen oft konfrontiert seien. «Wenn die Leute wissen, was in solchen Lagen zu tun ist, stärkt dies auch das Vertrauen.» Es sei unabdingbar, dass man im Einsatz auf das Gegenüber zählen kann. Besonders wichtig fände er es auch, dass Vorgesetzte zugeben könnten, wenn sie selbst Fehler machten. «Dann kann der Zug ihnen auch in schwierigen Situationen vertrauen.»

Vertrauen ist nicht schwierig zu erhalten, wenn man begriffen hat, dass es ein Prozess ist

Pfarrer Lothar Schullerus

In einem ganz anderen Setting, in dem Vertrauen ebenfalls dringend erforderlich ist, arbeitet Franziska von Arx-Strässler (vgl. Hauptinterview auf S. 10). Die Co-Pflegedienstleiterin im Universitäts-Kinderspital in Zürich ist der Überzeugung, dass gegenseitiges Vertrauen «bei mir selbst anfängt». Sie leitet 200 Personen im Pflegebereich. Wenn sie von Mitarbeitenden kritisches Feedback erhält, hilft es ihr, blinde Flecken bei sich selbst zu entdecken und daran zu arbeiten. Um Vertrauen aufzubauen, sei es hilfreich, authentisch, glaubwürdig und transparent zu sein: «Man muss echt sein und kann den Leuten nicht etwas vorspielen, was nicht ist.» Wertschätzung bedeutet für sie zum Beispiel, dass sie Mitarbeitenden zu einem runden Geburtstag von Hand eine persönliche Glückwunschkarte schreibt.

«Vertrauen ist nicht ein Gut, sondern das Resultat eines ständigen Prüfungsprozesses», resümiert Lothar Schullerus, Pfarrer der Gemeinde Nesslau (SG). Vor 17 Jahren kam der in Siebenbürgen aufgewachsene deutsche Seelsorger in die ländliche Gemeinde – und begann bei null im Vertrauensaufbau. «Vertrauen ist nicht schwierig zu erhalten, wenn man begriffen hat, dass es ein Prozess ist», sagt er. In einem Prozess sei alles ständiger potenzieller Veränderung unterworfen. Es fusse letztendlich auf der «Kunst des Möglichen» (Kurt Messmer) und dem Willen, dieses zu beiderseitigem Vorteil einzusetzen. «Letztendlich ist die Voraussetzung gegenseitiger Respekt und Wertschätzung», betont Lothar Schullerus, der sich stark im internationalen Netzwerk «Kirchen im ländlichen Raum» engagiert.

Doch selbst wenn das Vertrauen einmal hergestellt ist, hält es nicht zwingend für ewig, sondern kann geschwächt oder auf Probe gestellt werden. Zugführer Rico Fontana nennt als Beispiel, wie schwierig es ist, das gleiche Vertrauen in eine Person aufzubauen, wenn es missbraucht wurde – etwa durch eine Falschaussage. Umgekehrt weist Antoinette Weibel darauf hin, dass es ein Vertrauensklima auch beeinträchtigt, wenn Führungskräfte das Team ohne Respekt behandeln, die eigenen Emotionen nicht im Griff haben oder Leute vor anderen blossstellen. Oder wenn sie Misstrauen an den Tag legen. «Zum Beispiel indem sie eine Überwachungssoftware einsetzen, sobald das Team ins Homeoffice gewechselt hat», sagt Vertrauensforscherin Antoinette Weibel. Das sei ein «Killer» für das Vertrauen und schaffe ein Klima der Angst – und «Angst und Vertrauen gehen nicht zusammen».

Wenn man viel mit Boni arbeitet, ist es schwierig, eine Vertrauenskultur aufzubauen: Sie regen den Egoismus an.

Prof. Antoinette Weibel, Uni St. Gallen

Es sei eine herausfordernde Zeit, um Vertrauen aufzubauen, gibt Antoinette Weibel zu bedenken. Aber auch eine grosse Chance, um den Mitarbeitenden zu zeigen, wie gross das Vertrauen in sie sei. Zu Strukturen, die in Unternehmen das Vertrauen erschweren, hat Weibel viel geforscht: «Wenn man viel mit Boni arbeitet, ist es unglaublich schwierig, einfach eine Vertrauenskultur aufzubauen. Denn individuelle leistungsvariable Boni regen dazu an, egoistisch zu sein.» Viel zielführender wäre es ihrer Meinung nach, wenn die Führungsentwicklung mehr in Richtung emotionale Intelligenz gehen würde.

Weil Führungskräfte mehr Macht haben und in der besseren Position sind, liege es an ihnen, auf die Mitarbeitenden zuzugehen. Zum Beispiel indem sie ihnen gegenüber einräumen würden, dass man selbst nicht alles wisse, oder zugeben würden, dass man einen Fehler gemacht habe. «Wir brauchen neue Formen von Selbstreflexion. Auch das Thema moralischer Charakter hat man lange nicht mehr für wichtig gehalten», sagt Antoinette Weibel. Die Forscherin schreibt aktuell an einem Buch über die «Tugendhafte Organisation» und ist auf der Suche nach Firmen, die sich damit auseinandersetzen möchten.

«Wir meinen nicht die 35-Stunden-Woche, sondern die Möglichkeit, in einem Unternehmen in einem guten Team mit guten Beziehungen zu arbeiten, den Job als Berufung zu empfinden und kreativ zu sein.» Dies könne sich auch wirtschaftlich auswirken, weil Mitarbeitende zum Beispiel Fehler schneller entdeckten. Antoinette Weibel würde es nicht zuletzt auch begrüssen, wenn Führungskräfte schlicht und einfach mehr Mitgefühl zeigen würden. Insbesondere in der heutigen Pandemiesituation, wo diese Faktoren besonders bedeutend seien. Am Ende des Tages sei es entscheidend, sich Zeit zu nehmen füreinander: «Wenn man in einen kontinuierlichen Dialog treten und lernen würde, einander zuzuhören, würde eine Vertrauenskultur noch viel mehr bringen.»