«Ein guter Leader muss vor allem kohärent sein»

26.09.2023
3/2023

Christian Petit publiziert als CEO und als Mensch in einem sozialen Netzwerk und schreibt all seine Posts dort höchstpersönlich. Der Chef des Energieunternehmens Romande Energie ist überzeugt, dass wir aus der fossilen Energie aussteigen müssen. Und dass Glück wenig mit Besitz zu tun hat.

Christian Petit, muss man als Führungskraft ein Vorbild sein?

Ich glaube nicht, dass eine Führungskraft ein Vorbild sein muss. Ich glaube auch nicht, dass es für das Unternehmen und die Mitarbeitenden gut ist, ein einziges Modell anzubieten. Eine Führungskraft muss lediglich – und das ist schon eine schwierige Aufgabe – in ihren Gedanken, Worten und Taten kohärent sein. Mitarbeitende und Partner des Unternehmens achten sehr genau auf jede Lücke in diesem Register.

Was sind die grössten Herausforderungen, wenn man als Chef ein Vorbild sein will?

Zunächst muss sich der Leader bewusst sein, dass er von seiner Umgebung ständig beobachtet wird. Seine Gestik, seine Worte und seine Entscheidungen werden von vielen Menschen wahrgenommen und analysiert. Sich in einem solchen Umfeld zu bewegen, ist bereits die erste Herausforderung, die es zu bewältigen gilt.

Die zweite Herausforderung ist die angesprochene Kohärenz. Der Alltag eines Unternehmens besteht aus Höhen und Tiefen, aus guten und weniger guten Nachrichten, aus Momenten der Anspannung und der Krise: Studien zeigen, dass wir in entspannten und in stressigen Situationen unterschiedliche Werte abrufen.

Ich persönlich zögere nicht, mich bei meinem beruflichen Umfeld zu entschuldigen, wenn ich merke, dass ich eine falsche Entscheidung getroffen habe.

Was tun Sie, wenn Sie der Meinung sind, dass Sie einen Fehler gemacht haben?

Ich persönlich zögere nicht, mich bei meinem beruflichen Umfeld zu entschuldigen, wenn ich merke, dass ich eine falsche Entscheidung getroffen habe, oder wenn mir bewusst wird, dass ich Kollegen vor den Kopf gestossen habe. Eine Führungskraft macht – wie jeder andere Mensch auch – Fehler, sie ist nicht unfehlbar.

Haben Sie Vorbilder – und wie haben sie Ihnen auf Ihrem beruflichen Weg geholfen?

Sehr geprägt hat mich die zwanzigjährige Zusammenarbeit mit Carsten Schloter, dem ikonenhaften CEO der Swisscom in den Jahren 2006 bis 2013. Er rekrutierte mich 1993 in Paris, als ich in den Telekom-Markt einstieg, und wir gingen danach einen gemeinsamen Weg. Er war es auch, der mich im Jahr 2000 in die Schweiz holte. Ich glaube, wir teilten die gleichen Werte: Respekt für die Mitarbeitenden und Kundenorientierung. Ich verdanke ihm viel.

Sie sind für Ihr persönliches Engagement für Nachhaltigkeit bekannt. Sie fahren mit einem Elektrofahrrad und schränken Ihren Fleischkonsum ein. Wie einfach ist es, in diesem Bereich ein Vorbild zu sein?

Für mich steht die Vorbildrolle bei der Nachhaltigkeit nicht im Vordergrund. Wie viele andere bin ich ganz einfach mit all den Widersprüchen eines westlich geprägten Lebensstils konfrontiert und dem Bewusstsein, dass er nicht nachhaltig ist. Also müssen wir uns informieren und uns der Auswirkungen unseres Handelns bewusst sein, um klar und deutlich – und ohne Schuldgefühle – über unsere Lebensgewohnheiten zu entscheiden. Einfach gesagt geht es darum, mit sich selbst im Reinen zu sein.

Dagegen gibt es den Einwand, dass individuelle Massnahmen keinen Einfluss auf den globalen CO2-Ausstoss haben.  

Das ist gleichzeitig richtig und falsch. Der Einfluss von Privatpersonen auf den Treibhausgasausstoss beträgt etwa einen Drittel der Gesamtemissionen. Unternehmen und öffentliche Körperschaften haben ihrerseits wirksame Hebel in der Hand, um den Treibhausgasausstoss zu beeinflussen. Studien zeigen aber, dass sich die gesamte Gesellschaft verändert, wenn nur genug Individuen den Anfang machen. Wir sind von diesem Wendepunkt nicht mehr weit entfernt.

Genügsamkeit beim CO2-Ausstoss führt zu einem Leben, das sich auf das Wesentliche konzentriert: menschliche Bindungen und Beziehungen zu anderen.

Sie halten eine massive Reduktion des Energieverbrauchs für eine wichtige Massnahme. Schaffen Sie es, solche Energieeinsparungen in Ihrem Haushalt umzusetzen?

Was wir in unseren Gebäuden an Energie verbrauchen, ist grösstenteils kohlenstoffrelevant und macht heute etwa einen Drittel der Treibhausgasemissionen in der Schweiz aus. Ich für meinen Teil bin Mieter und an das Fernwärmenetz der Stadt Lausanne angeschlossen, das noch ziemlich viel Erdgas verwendet. Meine Bemühungen bestehen darin, dass ich versuche, den Beginn meiner Heizperiode so weit wie möglich hinauszuzögern und sie dann am Ende des Winters so früh wie möglich zu beenden. Und in der Zwischensaison nicht zu viel zu heizen. Mit einem dicken Pullover lässt es sich gut aushalten!

Braucht es also einen Verzicht auf Wohlstand?

Ab einem gewissen Mindestmass an Wohlstand ist das Gefühl von Glück nicht mehr an den Besitz oder den Konsum von Gegenständen gebunden. Genügsamkeit beim CO2-Ausstoss führt zu einem Leben, das sich auf das Wesentliche konzentriert: menschliche Bindungen und Beziehungen zu anderen. Studien sind sich einig, dass diese Faktoren den grössten Einfluss auf unser Glücksempfinden haben. Ich glaube deswegen nicht an die Vision einer «strafenden» Ökologie: Nüchternheit kann glücklich machen.

Sie sind einer der wenigen Schweizer Chefs, die persönlich auf Linkedin kommunizieren, wo Sie über 20’000 Follower haben. Ist das authentisch?

Ich schreibe alle meine Posts selbst, und ich äussere mich oft in persönlicher Form. Dies gibt mir eine grosse Freiheit im Ton und ermöglicht es mir, so authentisch wie möglich zu sein. Linkedin ist das einzige Netzwerk, in dem ich vertreten bin. Es passt gut zu mir, da es sich an Berufstätige richtet. Das Gesamtniveau des Zuhörens, Argumentierens und Austauschens ist deutlich höher als das, was ich in Netzwerken für die breite Öffentlichkeit feststellen kann.

Ich gehe sehr oft mit Menschen, die ich auf Linkedin kennengelernt habe, einen Kaffee trinken und habe sogar zwei oder drei Kollegen über diesen Kanal eingestellt.

Was sagt Ihnen dieser Austausch über die Wahrnehmung des ökologischen Wandels in der Öffentlichkeit?

Durch die Kommentare, die ich erhalte, lerne ich viel, ich entdecke andere Blickwinkel als meine eigenen, und es ist mir oft passiert, dass ich auf diesem Weg neue Leute kennengelernt habe. Ich gehe sehr oft mit Menschen, die ich auf Linkedin kennengelernt habe, einen Kaffee trinken und habe sogar zwei oder drei Kollegen über diesen Kanal eingestellt. Ich stelle durch diesen Austausch fest, dass die Menschen heute in ihrer grossen Mehrheit den wissenschaftlichen Konsens akzeptiert haben, der besagt, dass die derzeitige globale Erwärmung tatsächlich menschengemacht ist. Aber Vorsicht: Ich befinde mich sicherlich in einer Informationsblase, die vom Algorithmus von Linkedin ausgewählt wurde.

Romande Energie ist ein Unternehmen, das sich für Nachhaltigkeit einsetzt. Sind die erneuerbaren Energien bei der Stromerzeugung in diesem Unternehmen vorherrschend?

Alle unsere Strom- und Wärmeerzeugungsanlagen arbeiten auf der Grundlage erneuerbarer Energien. Derzeit nutzen wir vor allem Wasserkraft für die Stromerzeugung, aber die Solarenergie ist auf dem Vormarsch. Und im kommenden Herbst werden wir den ersten Windpark im Kanton Waadt einweihen.

Welche Botschaft möchten Sie in Ihrer Führungsposition den Generationen Y und Z vermitteln, die immer stärker unter den Mitarbeitenden vertreten sind?

Ich möchte ihnen sagen, dass es normal ist, dass sie manchmal Angst vor der kommenden Welt haben. Diese Öko-Angst beschäftigt uns alle. Sie ist natürlich bei unseren jungen Menschen stärker ausgeprägt, die in einer Welt leben müssen, die dauerhaft vom Klimawandel betroffen sein wird. Die Herausforderung, der sich die Menschheit stellen muss, ist immens. Wir müssen jetzt die Nutzung fossiler Energiequellen beenden. Dieser Meilenstein bietet grosse berufliche Chancen für die nächste Generation, für die es von nun an leichter sein wird, Arbeit und Sinn miteinander zu vereinbaren. Wenn ich persönlich manchmal dem Pessimismus nachgeben muss, kuriere ich mich durch Handeln. So kann ich den Schwung der Hoffnung wiederfinden.

Leidenschaftlicher Berggänger

Christian Petit (60), der 2019 die Leitung von Romande Energie übernommen hat, blickt auf eine vielseitige Laufbahn zurück, die zwei Jahrzehnte Erfahrung bei Swisscom umfasst, wo er der Generaldirektion angehörte. In seiner aktuellen Position leitet er ein Unternehmen mit mehr als 1200 Mitarbeitenden. Der in Paris an der ESSEC in Wirtschaftswissenschaften diplomierte Franzose mit Schweizer Staatsbürgerschaft absolvierte 2003 ein Postgraduiertenstudium am IMD in Lausanne. Der in der Region Lausanne (VD) lebende passionierte Bergsteiger und Wanderer ist Mitglied des Vorstands des Dachverbands Swisscleantech.