Eine Verpflichtung, die von innen kommt

05.12.2022
4/2022

Verantwortung und Verantwortlichkeit sind nicht dasselbe, aber die beiden gehören zusammen. Wie ist der schwere Rucksack der Verantwortung am leichtesten zu schultern, und wie werden die einzelnen Bündel der Verantwortlichkeiten am besten verteilt? Wir haben bei drei Start-up-Gründern, der Directrice von Amnesty Schweiz und einem Feuerwehrhauptmann nachgefragt, wie sie ihre Verantwortung leben.

Beim Wort Verantwortung zucken die einen zusammen, die anderen blühen erst so richtig auf. Klar ist, dass mit messerscharfer Klarheit alle wissen, worum es geht. Worauf Verantwortung hinausläuft, trägt der Begriff mit dem Wortteil «Antwort» bereits in sich. Verantwortung bedeutet «vor Gericht antworten, eine Frage beantworten» – so leitet die Etymologie den seit Hunderten von Jahren gebräuchlichen Begriff her. Gemeint ist: Die Verpflichtung, für etwas einzutreten, Stellung zu beziehen, Konsequenzen zu tragen.

Bei der Recherche zu diesem Artikel haben wir Menschen aus ganz unterschiedlichen Branchen gefragt, was Verantwortung für sie in ihrem Berufsalltag bedeutet – dies auch ganz persönlich, und manchmal, bis es fast wehtut. Eine ganzheitliche Ansicht von Verantwortung haben Bettina und Christian Hirsig, ein junges Geschäftspaar, das seit sechs Jahren Migrantinnen und Flüchtlinge im Bereich IT ausbildet und sie auf dem Weg in die Arbeitswelt unterstützt (siehe Interview «Im Gespräch»). Ihre Hauptmotivation für dieses Engagement: Gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Oder das Ziel, das so simpel wie nachahmenswert klingt: «Die Welt kreieren, in der ich leben will.» Vorrangig dabei ist gemäss Bettina Hirsig nicht die Profitmaximierung, sondern der gesellschaftliche Nutzen.

Der Job von Berufsfeuerwehrmann Renato Mathys wäre ohne die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, gar nicht zu stemmen. Er ist seit mehreren Jahren Abteilungsleiter der Berufsfeuerwehr Süd bei Schutz & Rettung Zürich. «Verantwortung hat für mich mit einer gewissen Verpflichtung, mit Kompetenzen und Entscheidungen zu tun», sagt er. Wenn er morgens zur Arbeit fährt, weiss er nie, in welcher Form er seine Verantwortungsbereitschaft einsetzen muss. Nach einem Alarm fahren die vollbesetzten Feuerwehrautos innerhalb von 90 Sekunden los, ohne dass die Insassen wissen, was sie erwartet. Feuerwehrleute geniessen in der Gesellschaft ein besonders hohes Vertrauen – dies bringt gemäss Mathys eine grosse Verantwortung mit sich.

«Was traue ich mir heute zu?»

Im Innendienst geht es weitaus weniger hierarchisch zu und her als bei externen Feuerwehreinsätzen. Diese finden meistens unter Zeitdruck statt, und es geht dabei häufig um Leben und Tod. Renato Mathys: «Das hat einen anderen Einfluss auf die Verantwortung – da kommen Fragen auf wie: Was traue ich mir heute zu, welche Verpflichtungen und Kapazitäten habe ich im Einsatz?» Die Verantwortlichkeiten sind bei jedem Einsatz transparent und klar, damit alle Hand in Hand arbeiten können: Der Rohrführer und die Atemschutztruppe helfen einander, die Löschrohre in das Gebäude zu bringen. Der Truppführer verständigt sich mit der Einsatzleiterin per Funk, ob er die Türe öffnen kann oder ob er wegen des Rauchs zuerst das Lüftungsgerät im Treppenhaus einsetzen muss.

Renato Mathys ist unter anderem bei Wohnungsbränden als Einsatzleiter dabei. Zudem hat er wochenweise Pikettdienst, um als Offizier die Gesamtleitung der Feuerwehrmittel bei Ereignissen zu übernehmen. Zu dieser Verantwortung gehört es, die Probleme zu erfassen, einen Zeitplan zu erstellen und Prioritäten zu setzen – etwa weitere Einsatzmittel aufzubieten, um das Übergreifen des Feuers auf das Nachbarhaus zu verhindern. Wie zum Beispiel beim Grossbrand eines historischen Gebäudes vor vier Jahren am Zürcher Bahnhofplatz, als Mathys diese Funktion innehatte. Wie er dabei genau vorgeht, hat er ausgiebig gelernt und mehrfach eingeübt – das gibt ihm Sicherheit.

In seiner Laufbahn ist der Berufsfeuerwehrmann aber auch immer wieder in Situationen geraten, wo er explizit Eigenverantwortung übernehmen musste. Eines der eindrücklichsten Erlebnisse war, als er bei einem Einsatz im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall am Unfallort realisierte, dass niemand mit dem Opfer, einer in einem Autowrack eingeklemmten Frau, im aktiven Gespräch war. Diese Rolle war bei der Feuerwehr Zürich zu jenem Zeitpunkt noch nicht offiziell geklärt. Also entschloss sich Renato Mathys in dieser Extremsituation aus eigenem Antrieb, die Frau anzusprechen und zu beruhigen, was ihre Bergung enorm erleichterte. Heute ist die Rolle des Betreuers oder der Betreuerin bei jedem Ereignis klar festgelegt.

Verantwortung mit Folgen

Eine ganz andere Art von Verantwortung trägt Alexandra Karle, Directrice von Amnesty Schweiz. Als Erstes nennt sie die grosse Verantwortung für den Umgang mit privaten Spendengeldern, die ihr sehr am Herzen liegen. Auch Eigenverantwortung wird im Team der 70 Mitarbeitenden von Amnesty Schweiz grossgeschrieben. Den Grund dafür sieht Alexandra Karle auch darin, dass die Amnesty-Mitarbeitenden in der Regel intrinsisch motiviert sind und mit ihrer Arbeit etwas verändern wollen: «Das Ziel ist, die Menschenrechte zu schützen. Das ist ihr Antrieb bei der Arbeit.»

Durch die internationale Ausrichtung und die enge Zusammenarbeit mit Amnesty International kommt dem Thema Verantwortung eine noch grössere Bedeutung zu: Wenn Alexandra Karle sich als Repräsentantin von Amnesty Schweiz zu einem bestimmten Thema in einem anderen Land öffentlich äussert, tut sie dies sehr verantwortungsbewusst und gezielt. Denn die Äusserung kann einen Einfluss auf Menschenrechtsaktivisten im betroffenen Land haben – zum Beispiel im Iran – und diese möglicherweise in Gefahr bringen.

Auch ihre Verantwortung für Managementfehler oder Fehler in der Organisation nimmt Alexandra Karle sehr ernst: «Grobe Fehler können für mich auch persönliche Konsequenzen haben – schlimmstenfalls bis zu meinem Rücktritt. Das Entscheidende ist, dass die Organisation keinen Schaden nimmt.» Diese Bereitschaft, persönliche Verantwortung für die Rolle und ein Ganzes zu übernehmen, fällt ihr jedoch nicht schwer. «Sonst wäre ich nicht in der Position, in der ich bin. Ich kann mich auch auf ein sehr kompetentes Team verlassen.»

Eine ganz persönliche Verantwortung für sein Unternehmen empfindet auch Peter Kaeser, Mitgründer und Geschäftsführer des Brillenlabels Viu. Das ehemalige Start-up entwirft Brillen in der Schweiz und lässt sie in Norditalien und Japan produzieren. Um «den Brillenmarkt aufzumischen», rief Kaeser das Label mit vier Gründerkollegen 2013 ins Leben. «Als Gründer hat man noch eine viel breitere Verantwortung. Das Unternehmen ist wie ein Baby, das immer grösser und unabhängiger wird. Aber die Verantwortung dafür bleibt», sagt Betriebswirtschafter Kaeser. Heute betreibt Viu fast 50 Filialen – neben der Schweiz auch in Deutschland und in Österreich.

Als Viu noch ein Start-up mit 10 bis 15 Personen war, war alles viel einfacher. Mit zunehmendem Wachstum brauchte es mehr Massnahmen, um die Verantwortlichkeiten zu klären. Einmal pro Quartal diskutiert das gesamte Team deshalb über die Fokusthemen. «Ein Ursprung des Problems ist oft, dass man viele Dinge parallel angeht», sagt Peter Kaeser. Deshalb hat Viu auch schon Anfragen abgelehnt, für andere Firmen beratend tätig zu sein, zum Beispiel beim Thema Inneneinrichtung der Stores.

Eine Person, eine Deadline

Heikel könne es auch sein, wenn die Schnittstellen zwischen den Abteilungen nicht gut funktionierten. Besonders relevant ist es für ihn, jede Aufgabe klar einer Person zuzuordnen und dafür eine Deadline zu definieren. «Wir haben herausgefunden, dass es bei uns nicht geht, wenn zwei Leute sich die Verantwortung teilen», sagt Kaeser. In den 49 Stores von Viu gibt es zwei verschiedene Berufsgattungen: Optiker für die medizinisch-technische Seite und Leute, die aus dem Verkauf kommen und etwas von Marketing verstehen. «Wir wollten zuerst beide Typen zu Co-Store-Managern machen. Dann haben wir gemerkt, dass es besser ist, wenn nur einer Manager ist und der andere Stellvertreter.»

Auch Augenblicke, in denen Peter Kaeser ganz persönlich Verantwortung übernimmt, gibt es immer wieder. Konsequenzen ziehen müsse er, wenn eine Person in ihrem Job einfach nicht glücklich sei und die Leistung nicht erbringe. Statt noch monatelang zuzuschauen, sei es oft besser, eine harte Entscheidung zu treffen und sich zu trennen. Solche schwierigen Gespräche hat Peter Kaeser auch schon selbst geführt: «Es ist wichtig, dass man dann früh genug den Dialog sucht. Meistens merkt es die Person auch selbst und ist froh, dass das Thema zur Sprache kommt.» Diese Gespräche seien oft unangenehm, aber letztlich auch positiv für alle Seiten.

Unter dem schönen Begriff «Verantwortungsdiffusion» ist der Zustand zusammengefasst, in dem es zwar genug fähige Leute gibt, aber eine Aufgabe trotzdem liegen bleibt. Damit es gar nicht so weit kommt, setzen die angefragten Personen ganz unterschiedliche Rezepte ein. Peter Kaeser und sein Team gehen den pragmatischen Weg mit der Definition von Jobprofilen und Verantwortlichkeiten. «Zudem wollen wir, dass die Leute auch Verantwortung für Probleme übernehmen, die nicht in ihrem eigenen Bereich liegen. Wir ermuntern sie dazu, unternehmerisch zu denken», so Kaeser.

Doch wenn Stellenbeschriebe allzu genau ausfallen, kann dies ebenfalls zu einer Verantwortungsdiffusion führen, weil sich in speziellen Ausgangslagen doch wieder niemand zuständig fühlt. Deshalb sind die Jobprofile bei der Berufsfeuerwehr Zürich bewusst wieder offener gehalten als früher, wie Hauptmann Renato Mathys betont. Auch er kennt Situationen, in denen Mitarbeitende aus welchen Gründen auch immer zögern, Verantwortung zu übernehmen.

«Wichtig ist dabei, die Ursache dafür herauszufinden: Liegt es an der Tagesform, sind die Kompetenzen zu wenig geklärt, ist die Person zu wenig geschult oder unsicher aus der Angst heraus, Fehler zu begehen?» Seine eigene Aufgabe sieht Mathys in solchen Fällen darin, Ruhe in die Situation zu bringen. Er fragt die betreffende Person, was sie noch benötigt, was er ihr noch geben könne, damit sie eine Entscheidung fällen kann. «Ich brauche das auch manchmal», räumt der erfahrene Berufsfeuerwehrmann ein, «denn man fühlt sich im ersten Augenblick manchmal schon etwas allein, wenn man vor einem Riesenbrand steht.»