Gnade

12.09.2022
3/2021

Übers Ganze gesehen bin ich zum Schluss gekommen, dass man um einiges professioneller arbeitet, wenn man sich nicht zu sehr mit etwas identifiziert. Mit was auch immer. In meinem Fall mit Kirche, mit Poesie, früher mit Parteipolitik, immer wieder mit ehrenamtlichem Engagement.

Wo viel Herzblut fliesst, holt man sich schnell einmal eine blutige Nase. Oder man muss sich fremdschämen für jemanden, der die Lieblingsorganisation ebenfalls repräsentiert. Und wohin es führt, wenn man nicht genügend Distanz hat, das findet man unter dem Stichwort «Eignblunzn».

Was aber hilft gegen Überidentifikation? Mir zum Beispiel, wenn ich mitten in der Nacht erwache und mich die tausend unerledigten Dinge umtreiben, eine bestimmte Vorstellung. Ich kaufe mir in Gedanken einen soliden Reisbesen, nicht so einen billigen Schrott, der bereits auseinanderfällt, bevor du ihn recht in die Finger nimmst. Ich zwacke ihn dann mit einer Rebschere in eine perfekte Form und beginne einen grossen imaginären Platz zu wischen. Ich fühle mich dabei leicht und frei. Alle Düsternis fällt von mir ab, und ich schlafe selig ein, erwache mit einem Lied auf den Lippen und mache mich ans Tagewerk.

Hilfe bringt auch ein Haiku von Mizuta Masahide (1657–1723)

«Nun da mein Warenhaus

abgebrannt ist,

verbirgt nichts mehr den Mond.»

Und dennoch: Meinen Beruf, meine Tätigkeit, mein Engagement als etwas Sinnvolles erleben zu dürfen, das ist das Wichtigste. Oft auch ein Privileg. Oder wie ich es als Theologe bezeichnen würde: Gnade.

 

Daniel Müller-Gemperle,
reformierter Pfarrer