In der Mitte des Kreises bleiben

21.06.2023
2/2023

Die Kooperation mit unterschiedlichen Anspruchspartnern kann ganz schön anstrengend sein. Mit einem gemeinsamen Ziel ist es zwar leichter. Aber nicht selten führt die Rücksicht auf andere Interessen zu neuen Erkenntnissen, die sich auch wirtschaftlich positiv auswirken. Stakeholder-Management ist deswegen nicht nur aus Nachhaltigkeitsgründen ein Imperativ.

«Niemand ist eine Insel ganz für sich allein. Jedermann ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Festlandes» lautet ein bekanntes Zitat des englischen Dichters John Donne. Der Spruch ist so gut, dass ihn 400 Jahre später zuerst Johannes Mario Simmel und dann Jon Bon Jovi ausgeliehen haben. Die Idee, miteinander verbunden zu sein, lässt sich auch auf Anspruchspartner, neudeutsch Stakeholder, übertragen. Auch für den Umgang mit ihnen gilt: Gemeinsam sind wir stärker. Für Unternehmen gilt deswegen längst der Grundsatz, dass die Interessen aller Betroffenen nicht nur berücksichtigt, sondern regelrecht bewirtschaftet werden müssen.

Insbesondere für nachhaltige Unternehmen ist Stakeholder-Management zentral. Denn es entstehen bei konkreten Projekten weniger Interessenkonflikte und Missverständnisse, wenn die Stakeholder eingebunden und regelmässig informiert werden und wenn sie aktiv mitbestimmen können. Dies trägt gleichzeitig dazu bei, die Bedürfnisse der Stakeholder zu identifizieren und zu berücksichtigen. Diesen Weg gehen Esther und Nicolas Mottier bei der Aufbauarbeit ihres Projektes «Votre Cercle de Vie» (vgl. Interview Seite 4).

Das nachhaltige Hotelprojekt mit Biobauernhof im Rahmen der Kreislaufwirtschaft wird nach der Fertigstellung eine überregionale Ausstrahlung haben und in der Schweiz einzigartig sein. Umso wichtiger ist es Esther und Nicolas Mottier, seit Beginn möglichst viele Betroffene einzubinden. «Gerade bei der Kreislaufwirtschaft gibt es von Anfang an die Möglichkeit, mit den Partnern an einen Tisch zu sitzen und gemeinsam über Ideen zu sprechen», sagt Esther Mottier. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass eine offene und transparente Kommunikation am besten funktioniert und hilft, Verständnis füreinander zu entwickeln – auch zwischen Bauern und Konsumenten.

Spannungen zwischen Interessengruppen reduzieren

Die engagierte Mitinitiantin des Pionier-Kreislaufprojektes bedauert, dass in der Schweiz zwischen den Landwirten und der Stadtbevölkerung eine gewisse Spaltung entstanden ist. Die Menschen zurück zur Natur zu begleiten, ist das eine, das andere ist das Teilen einer gemeinsamen Weltanschauung. Denn gemäss Esther Mottier geht es bei ihrem Projekt nicht darum, als einzelnes Unternehmen möglichst viel Profit zu schlagen, sondern weitere Partner mit gleichen Wertvorstellungen zu suchen: «Denn so sind wir einiges mehr als die Summe der Firmen, die miteinander arbeiten.»

Auch beim Infrastrukturbetreiber Flughafen Zürich geht es täglich um das Koordinieren und Jonglieren zwischen ganz unterschiedlichen Interessengruppen. Es sei entscheidend, zu verstehen, was die Stakeholder wollen, findet Emanuel Fleuti, Leiter Nachhaltigkeit und Umwelt. «Im Stakeholder-Management geht es oft auch um Expectation-Management. Die Herausforderung ist, diese Erwartungen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.» Der Flughafen Zürich verzeichnete im März 2023 über zwei Millionen Flugpassagiere und wickelte über 35 000 Tonnen Fracht ab. «Wir sind Herz, Hirn und Motor im System und arbeiten stark mit den Partnern direkt vor Ort wie Airlines oder anderen Dienstleistern zusammen», sagt Emanuel Fleuti.

Weniger bekannt ist, dass das Unternehmen auch eng mit zahlreichen anderen Partnern kooperiert: etwa im Rahmen der Grünflächenbewirtschaftung mit dem Kanton Zürich, um den Wert der Naturschutzgrünflächen auf dem Flughafenareal zu erhalten. Oder mit Hochschulen, bei denen der Flughafen in mehrjährigen Forschungsprogrammen über die Umweltauswirkungen seine Expertise einbringen kann. Auch wenn es für manche Ohren wie ein Widerspruch klingen mag: Der Flughafen Zürich verfügt über ein Umweltleitbild und verfolgt das Thema Klimaschutz bereits seit den 1990er-Jahren. Bis ins Jahr 2040 will das Unternehmen seine Treibhausgas-Emissionen auf netto null reduzieren. Dazu beitragen soll unter anderem die Abkehr von fossilen Brenn- und Treibstoffen.

Unterschiedliche Auffassungen schaffen Erkenntnisgewinn

Ein gutes Stakeholder-Management ist gemäss Ansicht von Emanuel Fleuti für ein nachhaltiges Management wichtig, denn «mit Stakeholder-Management kann man eine längere Wirkungsdauer und längerfristige Resultate erzielen». Beim Flughafen Zürich funktioniere es, weil viele Partner schon lange dabei seien und eine grosse Vertrauensbasis zu ihnen bestehe. Dies helfe, auch Unangenehmes anzusprechen. «Selbst wenn unterschiedliche Auffassungen bestehen, probiert man, mit Kompromissen etwas zu erreichen. Das ist ein Vorteil», so Fleuti. Dasselbe gilt für die Führung seines langjährigen Teams. «Gute Führung ist, zu schauen, dass man die Leute aus eigenem Antrieb motiviert, um auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten.»

«Purpose first» steht beim Handelsunternehmen gebana AG an erster Stelle. Die Pionierin für fairen Handel entstand 1973 mit den «Bananenfrauen» – engagierten Thurgauerinnen, die auf die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen auf den Bananenplantagen Lateinamerikas aufmerksam machten. Heute steht gebana (Abkürzung für gerechte Bananen) mehr denn je für nachhaltigen und fairen Welthandel. «Es ist bei nachhaltigen Unternehmen etwas einfacher, ein gemeinsames Ziel zu haben, wenn man etwas hat, wofür die Leute brennen», sagt gebana-Verwaltungsratspräsident Adrian Wiedmer.

Doch er vermutet, dass es im Nachhaltigkeitssektor gerade bei kleineren Firmen gleich ruppig zu- und hergehe wie in konventionellen Betrieben. Zudem hätten kleine Firmen oft weniger Zeit als grosse, um Stakeholder-Prozesse anzugehen. Insbesondere im Nachhaltigkeitsbereich sei aber darauf zu achten, nicht immer grössere Checklisten zu produzieren, die gar nie mehr einer anschaue. «Wenn wir wirklich etwas verändern wollen, nehmen wir mit unseren Partnern nur eines bis zwei neue Themen dazu», sagt Adrian Wiedmer. Wer mit ganz vielen Stakeholdern etwas erreichen wolle, drohe steckenzubleiben.

Zu viele Ziele verderben den Purpose

Hier kommt der «Purpose» ins Spiel: Wer eine klare Vision davon habe, komme auch mit vielen Stakeholdern in komplexen Situationen besser vorwärts. Dann könnten auch Entscheide besser fallen. «Nur mit hochfliegenden Visionen ist es aber auch nicht getan. Oft ist es nötig, auch Ziele auszuschliessen», gibt Wiedmer zu bedenken. Als gebana in Burkina Faso eine Fabrik bauen wollte, waren zuerst ökologische Baumaterialien geplant. Weil das in einem afrikanischen Land aber mit überproportional grossem Aufwand verbunden gewesen wäre, entschied man sich für einen konventionellen Bau.

Aus solchen Konfrontationen mit der Realität ist bei gebana ein Change Management entstanden. «Wir müssen als Unternehmen Gewinn generieren. Wenn nur das ‹Helfenwollen› im Vordergrund steht, sind wir tot in einem Jahr.» Komplexität reduzieren hilft also, und dies gilt auch für die Führung. Seit einiger Zeit arbeitet gebana mit agilen Managementformen, die gemäss Wiedmer für seine Branche sehr gut geeignet ist, «denn bei agilen Unternehmen ist der Purpose der Chef».

Ohne gemeinsame Ziele würden auch Genossenschaften nicht funktionieren. Der andere Begriff «Kooperative» trägt den Zweck schon im Namen: miteinander zu arbeiten. Genossenschaften schliessen sich mit dem Ziel der wirtschaftlichen Selbsthilfe zusammen. Bekannt sind Beispiele wie die Wohngenossenschaften Kalkbreite in Zürich, der Mitmachladen Güter in Bern oder die Wohngenossenschaft Klybeck in Basel.

Weitaus exotischer wirkt in diesem Zusammenhang das Musiklabel Red Brick Records. Es ist als einziges Label der Schweiz als Genossenschaft organisiert. Allerdings nicht von Anfang an, wie Gründungsgenossenschafter Simon Borer erzählt. Der leidenschaftliche Musiker gründete das Label 2011 in seinem Studentenschlafzimmer zunächst als Verein. Andere Musikerinnen und Bands kamen dazu, und irgendwann brauchte man eine andere Struktur.

Politischer Akt mit wirtschaftlichen Folgen

«Wir haben uns bewusst für die Rechtsform der Genossenschaft entschieden. Es war eine Art politischer Akt», erklärt der 34-Jährige. «Es war klar, dass wir wirtschaftliche Selbstermächtigung betreiben. Deshalb war die Gründung einer Genossenschaft sinnvoll.» Plötzlich war es möglich, eine Geschäftsstelle einzurichten, ein Budget zu erstellen und einen gewissen Umsatz zu generieren.

Denn die Besonderheit an diesem schweizerischen Label ist, dass es gleichzeitig ein Musikverlag ist und als Genossenschaft auch den Musikern gehört. «Das heisst, wir produzieren, veröffentlichen und vermarkten unsere eigene Musik», erklärt Simon Borer, der zu den drei umsatzstärksten Künstlern des Labels gehört.

Er tritt als Folksänger Long Tall Jefferson an internationalen Festivals auf und hat einige Alben herausgebracht. Seit 2015 kann der Familienvater ausschliesslich von der Musik leben – im heutigen Streamingzeitalter keine Selbstverständlichkeit. Einkommen generiert die Genossenschaft beispielsweise durch Vergütungen, wenn die Songs der Musiker auf Konzerten oder im Radio gespielt werden. Red Brick Records ist nicht nur ein rechtlicher und finanzieller Rahmen, sondern auch ein Netzwerk, in dem sich die Leute austauschen und ihr Know-how an andere weitergeben.

Seit diesem Jahr arbeitet Red Brick Records eng mit der Vertriebsfirma Irascible zusammen. Diese neue Partnerschaft wurde nötig, als die Genossenschaft praktisch vor dem Aus stand, weil sich die Geschäftsleitung auflöste. Ein Umdenken wurde nötig, damit das Label auf stabilem Fundament weiterbestehen kann. So dramatische Entscheidungen stehen in der Musikerkooperative aber nicht jeden Tag an.

Die 40 Musiker und Songwriterinnen haben am meisten zu diskutieren, wenn es darum geht, neue Mitglieder aufzunehmen. Viele von ihnen haben Musik studiert, sind Absolventen von Jazzschulen und sind unter 40. Auch Diversität und Nachhaltigkeit spielen in der Genossenschaft, die zum Dachverband des Schweizer Independent-Labels «IndieSuisse» gehört, eine Rolle. Gemeinsam haben die Musiker die Erklärung von «Music Declares Emergency» unterschrieben, einer Umweltschutzgruppe aus England, die sich für ein ökologisches Verhalten der Musikindustrie einsetzt.