Vorausgehen, inspirieren – und: leuchten

26.09.2023
3/2023

Ob bekannte Persönlichkeit, eine inspirierende Verwandte, der Arbeitskollege oder die Chefin: Die Orientierung an Vorbildern tut uns gut, denn Vorbilder bringen uns weiter, geben Beispiele und öffnen unseren Horizont. In der Führung ist deswegen immer auch die Vorbildfunktion gefragt. Was aber braucht es, um Vorbild zu sein? 

Squeezie, Mastu und Kylie Jenner – so heissen die populärsten Influencer der 12- bis 19-jährigen Jugendlichen in der Schweiz. Dies ergab der aktuelle JAMESfocus-Bericht der ZHAW-Fachgruppe Medienpsychologie und der Swisscom. Für andere junge Menschen sind nicht diese populären Jugendlichen aus den sozialen Medien die Grössten, sondern es sind Greta Thunberg, Elon Musk oder Cristiano Ronaldo.

Und noch früher hiessen die Idole Che Guevara, Nelson Mandela oder Martin Luther King. Waren sie Vorbilder aufgrund ihrer Taten? Oder wurden sie ohne aktives Dazutun Symbole für gewisse Werte? 

Vorbilder geben Orientierung im Leben oder stehen für bestimmte Eigenschaften, die wir uns gerne zuschreiben, wie Mut, Kreativität, Innovation, Charakterstärke oder Gerechtigkeit. Menschen in Vorbildrollen motivieren uns dazu, die eigenen Träume und Ziele zu verfolgen. Das liegt in unserer Natur, denn schon die Kinder lernen durch das Nachahmen der Menschen in ihrem unmittelbaren Umfeld. Dabei gehen sie überraschend kritisch vor, wie psychologische Studien zeigen. «Bereits Kinder im Alter von 14 bis 18 Monaten ahmten Erwachsene häufiger nach, wenn diese zuvor Handlungen ausführten, die den Kindern logisch erschienen», erklärt Moritz M. Daum, Professor für Entwicklungspsychologie und Direktor des Jacobs Center for Productive Youth Development an der Universität Zürich. Dies setzt sich später fort. Die psychologische Literatur ist sich einig, dass Menschen, die wenig empathisch sind oder inkompetent handeln, weniger als Vorbilder berücksichtigt werden. Wenn Kinder nach eigenen Idolen und Vorbildern suchen, sind sie sogar schon relativ früh – ab etwa drei oder vier Jahren – in der Lage, zu differenzieren, dass nicht alle Eigenschaften einer Person gleich bewundernswert sind. 

Erwartungen klar kommunizieren

Wer als Vorbild gelten will, sollte fachliche Kompetenz, Ehrlichkeit und Authentizität mitbringen. Das versucht auch Moritz M. Daum als Vorgesetzter im Umgang mit seinem Team zu beherzigen. Zudem legt er Wert darauf, keinen Druck auszuüben und den Mitarbeitenden zu zeigen, dass er ihre Bedürfnisse ernst nimmt. Denn wer gerne arbeite, sei motivierter. Dabei müsse man als Vorgesetzter jedoch aufpassen, in der Vorbildrolle nicht falsche Werte zu propagieren: «Wenn ich am Sonntag eine E-Mail verschicke, muss ich das Team informieren, dass ich nicht bereits am Sonntag eine Antwort erwarte.» Zu einer Vorbildfunktion gehören für ihn auch die klare Kommunikation, welche Leistungen erwartet werden und welche nicht, und Transparenz – auch oder gerade bei unpopulären Entscheidungen. 

Diese Punkte postuliert auch die Schweizer Charta für Sustainable Leadership, die unter anderem festhält: «Über transparente Prozesse, Governance und Leistungs- sowie Nachhaltigkeitsindikatoren schaffen wir Vertrauen.» Die Charta als Wegweiser für nachhaltige Führung zielt darauf ab, dass das ganze Unternehmen als Vorbild für nachhaltiges Verhalten und Engagement für das Gemeinwohl agiert. Für manche Organisationen ist ein Engagement dieser Art einfacher als für andere. 

Zum Beispiel für die unabhängige, gemeinnützige Stiftung Swisscontact. Vor 64 Jahren von der Schweizer Wirtschaft gegründet, agiert sie seither eher im Stillen, dafür umso effektiver: Im letzten Jahr mobilisierte die Stiftung 50,5 Millionen Franken von privaten Partnern für 70 Projekte in aller Welt. In 41 Entwicklungs- und Schwellenländern ist Swisscontact präsent, etwa mit Berufsbildungsprogrammen oder der nachhaltigen Produktion von Lebensmitteln zur Förderung von Kleinbauern.

Vorbilder in den eigenen Reihen 

«Wir glauben an die rollenbasierte Führung und geben den Mitarbeitenden möglichst viel Freiheit und Verantwortung», betont Swisscontact-CEO Philippe Schneuwly. Dies entspreche der Kultur und Philosophie des Unternehmens. Die Mitarbeitenden seien aus einer intrinsischen Motivation bei Swisscontact tätig. «Ich muss den Leuten nicht erklären, warum das, was wir machen, gut ist. Ich muss eher dafür sorgen, dass sie nicht zu viel arbeiten», präzisiert der CEO. Zwar ist die Hierarchie bei Swisscontact flach, aber wie Philippe Schneuwly ausführt, gibt es in der Organisation zudem eine unsichtbare Hierarchie der Erfahrung: «Das heisst, die Mitarbeitenden suchen sich ihre Vorbilder im Unternehmen aufgrund der Art, wie diese arbeiten und was sie erreicht haben.» Auch der CEO selbst hat sich auf seinem Weg inspirieren lassen von Kollegen im Unternehmen: «Vor allem davon, welche Projekte und Partnerschaften sie initiiert und welche Wirkung sie damit erzielt haben.»

Gabriela Keller, CEO der Ergon Informatik AG, hat ebenfalls ein Vorbild in den eigenen Reihen gefunden: ihren Vorgänger und ehemaligen Chef. «Patrick Burkhalter war in vielen Aspekten ein Vorbild und hat mich definitiv geprägt. Er hat mir Vertrauen geschenkt, Freiräume gegeben, mich gefördert und auch gefordert.» Sie erachtet die Vorbildfunktion von Führungskräften generell als essenziell: Walk the Talk – also den Worten Taten folgen lassen – ist ihrer Ansicht nach ein wesentliches Element für die Glaubwürdigkeit von Vorgesetzten. Die Zürcher Informatikfirma wollte es genau wissen und führte kürzlich eine Umfrage zum Thema Arbeitsautonomie bei den 400 Mitarbeitenden durch. Sie ergab, dass sie bei den Führungspersonen Aspekte wie Vertrauen in die Mitarbeitenden und deren Fähigkeiten, transparente Kommunikation, konstruktives Feedback, regelmässiger Austausch und klare Prioritäten erwarten, um autonom arbeiten zu können.

Es ist erlaubt, Fehler zu machen

Eine weitere Frau in einer Führungsetage ist Michèle Rodoni. Die CEO der «Mobiliar» erklärt, dass sie in ihrer bisherigen Karriere von ganz vielen Leuten ganz viel gelernt habe, am meisten von ihren Chefinnen und Chefs: «Zuhören und Lernen war und ist immer Teil meiner Entwicklung als Führungskraft.» Sie sieht gute Chefinnen und Chefs, die gleichzeitig auch Vorbilder sind, als Schlüsselrolle für den Erfolg ihres Unternehmens: «Sie motivieren und inspirieren nicht nur unsere einzelnen Mitarbeitenden, sondern auch unsere Teams.» Ein gutes Vorbild machen für sie drei zentrale Werte aus: Respekt, Verlässlichkeit und Verantwortung. «Gute Vorbilder begegnen ihren Arbeitskolleginnen und -kollegen immer mit Respekt, auf sie kann man zählen, sie übernehmen Verantwortung und nutzen ihren Entscheidungsspielraum.» Wesentlich ist für Rodoni, dass Vorgesetzte auch Fehler machen dürfen: «Das macht sie menschlich. Damit ehrlich und bescheiden umzugehen, stärkt das Vertrauen.»

Das sieht Christian Petit, CEO von Romande Energie (siehe Interview) ganz ähnlich. Für ihn ist das Eingestehen von Fehlern ganz wichtig: «Erst dadurch können die Mitarbeitenden zugeben, dass sie nicht perfekt sind. Das ist die Grundvoraussetzung dafür, dass eine Kultur der Angst einer Kultur des Lernens und des Fortschritts weichen kann.» Nach seinem eigenen Vorbild befragt, gibt Christian Petit zur Antwort, dass ihn der ehemalige Swisscom-CEO Carsten Schloter sehr inspiriert habe. «Er war immer sehr anspruchsvoll, aber immer zum Wohle des Unternehmens. Er verlangte von anderen nie eine Anstrengung, die er nicht zuerst sich selbst auferlegte.»

Authentisch sein und leuchten. Dies scheint ein ganz entscheidender Punkt zu sein: Glaubwürdigkeit macht das Vorbild aus. Alle angefragten Personen haben wiederholt den Begriff «Authentizität» erwähnt, damit jemand – ob Führungskraft oder Kollege – als Vorbild wahrgenommen wird. Doch was ist das eigentlich? Der Begriff stammt aus dem Griechischen «authentikós» und bedeutet «echt». Wer authentisch handelt, lässt sich nicht von äusseren Einflüssen bestimmen: Unter Authentizität verstehen wir auch Echtheit, Integrität, Glaubwürdigkeit. Gemäss Psychologe Daum heisst das: «Was man macht und wofür man steht, das wird auch eingehalten.» Im Gegenzug heisst das aber auch, dass Vorgesetzte an Glaubwürdigkeit und Transparenz verlieren, wenn sie nicht das tun, was sie predigen. Ehrlichkeit geht Hand in Hand mit Authentizität.

Was seine eigenen Vorbilder angeht, bewundert Moritz M. Daum Menschen mit der Fähigkeit, anderen mit der Haltung «assume positive intent» zu begegnen. Das heisst, davon auszugehen, dass die andere Person etwas mit positiven Absichten macht und ihr Bestes gegeben hat. So sei es möglich, ganz anders auf Menschen zuzugehen, sei es im Betrieb, zu Hause oder sogar bei Freunden. Nicht zuletzt ist für ihn auch das Verantwortungsbewusstsein Teil einer vorbildhaften Rolle: sich vor das Team zu stellen, Unangenehmes abzufangen und die Konsequenzen zu tragen. Natürlich funktioniere das nur an guten Tagen, denn es gebe immer auch Tage, an denen diese Vorsätze nicht perfekt eingehalten werden könnten. 

Hier deckt sich das Führen eines Teams wieder mit dem Aufziehen von Kindern: Wie Vorgesetzte haben auch Eltern und Lehrpersonen gute und schlechte Tage. Wenn die guten überwiegen, können die Kinder dies einordnen und Erwachsene auch in deren weniger guten Zeiten trotzdem als Vorbild sehen. Zwar sollen Führungskräfte die Mitarbeitenden nicht erziehen. Aber wenn die eigenen Mitarbeitenden eine Führungskraft als Vorbild nehmen, hat sie bestimmt vieles richtig gemacht. Albert Einstein soll gesagt haben: «Es gibt keine andere vernünftige Erziehung als Vorbild zu sein, wenn es nicht anders geht, ein abschreckendes.»