«Wir können dem Pendel einen anderen Rhythmus geben»

04.06.2021
2/2021

Die Pandemie hat viele Unternehmen zu einem Umdenken bewogen und bietet uns die historische Chance, künftige Herausforderungen besser zu meistern. Davon ist Jonathan Normand überzeugt, Geschäftsführer des B Lab Schweiz, das Governance-Praktiken von Unternehmen mit Nachhaltigkeitskriterien bewertet und zertifiziert.

     

Sie wollen Unternehmen zum Ziel führen, nicht die «Besten der Welt» zu sein, sondern die «Besten für die Welt». Was meinen Sie damit?

Das Modell des wettbewerbsorientierten Ansatzes, auf dem wir die Wirtschaft in den letzten 400 Jahren aufgebaut haben, muss überdacht werden. Denn dieses Modell war stets abgekoppelt von den globalen Herausforderungen. Daher muss es zwingend das menschliche Wohlergehen stärker miteinbeziehen und gleichzeitig die globalen Auswirkungen menschlicher Aktivitäten berücksichtigen. Unternehmen müssen bei diesem Paradigmenwechsel eine zentrale Rolle spielen. Sie tragen eine grosse Mitverantwortung für das Allgemeinwohl von Mensch und Planet.

     

Umsatz und Gewinn sind durchaus relevante Indikatoren, die aber allein den Erfolg des Unternehmens nicht abbilden können. Das Wohl der Mitarbeitenden oder die Fluktuation sind für mich aussagekräftiger.

     

Was macht für Sie demnach ein Unternehmen zu einem erfolgreichen Unternehmen?

Es hängt davon ab, wie ein Unternehmen das Wort Wohlstand definiert, das aus dem Lateinischen «prosperare» stammt und so viel bedeutet wie «glücklich machen», «gelingen lassen», «Erfolg haben». Seine erfolgreiche Interpretation im wirtschaftlichen und unternehmerischen Kontext sehe ich in der Fähigkeit, die Interessen der Stakeholder und der Umwelt zu berücksichtigen. Erfolgreiche Unternehmen verfolgen einen inklusiven, wohlwollenden und langfristigen Ansatz und sind in der Lage, auf aktuelle gesellschaftliche und ökologische Fragen tragfähige Antworten zu geben.

Sind also Umsatzwachstum und Gewinnmarge als Performance-Indikatoren aus der Zeit gefallen?

Nein, sie sind nach wie vor relevante Indikatoren, die aber für sich allein die Entwicklung des Unternehmens nicht abbilden können. Das Wohlbefinden der Mitarbeitenden oder die Fluktuation innerhalb eines Unternehmens sind für mich wesentlich aussagekräftigere Indikatoren, um die Widerstandsfähigkeit eines Unternehmens zu verstehen.

Eine Widerstandsfähigkeit, die nicht rein von Finanzkennzahlen abhängt. Wie soll das gehen?

Genauso wie das Bruttoinlandsprodukt zur Erklärung der wirtschaftlichen Entwicklung eindeutig überholt ist, lassen reine Finanzkennzahlen für Unternehmen keine mittel- oder langfristige Bewertung zu. Darüber hinaus wird es immer mehr zum Mainstream, dass gesellschaftliche und ökologische Kennzahlen von Investoren, Banken oder Geschäftspartnern zwingend eingefordert werden.

Die Welt wird heute geprägt von Vermögensungleichheit, Klimawandel und sozialen Unruhen. Wie können Unternehmen und die Wirtschaft konkret gegen diese Missstände ankämpfen?

Unsere Mission von B Lab verfolgt genau diesen Ansatz, wonach es die Unternehmen sind, die zur Linderung der Missstände einen sehr wesentlichen Beitrag leisten können. Dieser Ansatz artikuliert sich im notwendigen Systemwechsel, um die Aufgaben und die Verantwortung von Unternehmen neu zu definieren. Wir messen dafür einerseits ihre ESG-Auswirkungen (Environment, Social, Governance) und lassen sie dazu neue Ziele und Verpflichtungen in ihre Statuten integrieren.

     

Eine Charta des Umdenkens?

Gewissermassen. Dieses Vorgehen ermöglicht es Unternehmen, die Nachhaltigkeit in ihre strategischen und operativen Entscheidungsprozesse zu integrieren. Ich spreche von einem neuen Führerschein für die Wirtschaft des 21. Jahrhunderts. Positiv ist, dass sehr viele Unternehmen bereits aktiv an der Umsetzung sind und auch danach fragen. Wir müssen diesen Prozess nun einfach zusätzlich beschleunigen.

Könnte die Coronakrise behilflich sein, eine Art solidarischeren Kapitalismus aufzubauen?

Wir sprechen von einem Stakeholder-Kapitalismus als Gegenstück zum Shareholder-Kapitalismus, der nur kurzfristig und für einige wenige funktioniert. Ein Erwachen des Bewusstseins in Bezug auf Wirtschaftsmodelle und Abhängigkeiten ist in dieser Konjunkturkrise als Folge der Pandemie deutlich sichtbar geworden. Parallel dazu wächst in vielen Unternehmen die Resilienz. Sie hatten Zeit, ihre Mission, ihre Daseinsberechtigung und damit ihre Arbeitsweise in ihrer Branche zu überdenken. Ich kann mir vorstellen, dass ein grosser Teil von ihnen gerne sehen würde, dass alles wieder so wird, wie es vorher war. Aber es ist auch eine Pflicht, zu einer besseren Wirtschaft zu kommen, um die anderen systemischen Schocks zu antizipieren, denen wir in den kommenden Jahren begegnen werden.

     

Es ist unsere Pflicht, zu einer besseren Wirtschaft zu kommen, um die systemischen Schocks zu antizipieren, denen wir in den kommenden Jahren begegnen werden.

     

Und sind Sie zuversichtlich?

Insgesamt haben wir ermutigende Signale von Unternehmen erhalten, die sich nun mit einer Vielzahl von Fragen zu ihrer Fähigkeit, Teil der Lösung für eine wünschenswerte Zukunft zu sein, auseinandersetzen müssen.

Ist es in Krisen nicht oft so, dass man noch egoistischer wird und sich vom kleiner werdenden Kuchen das grösste Stück sichern will?

Es ist interessant, zu sehen, dass sehr oft das Gegenteil der Fall ist. Wir sehen, dass Gemeinschaften stärker werden, Solidarität und Zusammenarbeit in Krisenzeiten zunehmen. Anschliessend müssen wir dies auch in den Kontext des stattfindenden kulturellen Wandels stellen, bei dem die Suche nach Sinn genauso wichtig wird wie die Suche nach Profit.

Braucht es in der Wirtschaft vermehrt den Ansatz «Learning by Sharing»?

Genau wie in der Wissensökonomie ist es dringend notwendig, Räume und Mittel für kollektives Lernen zu implementieren. Das Swiss-Triple-Impact-Programm von B Lab Schweiz ist auf diesem Modell aufgebaut. Neben dem Austausch von Praktiken und dem Aufbau von kollektiven Lösungen zwischen Unternehmen ist dies der Multiplikatoreffekt, den wir nutzen, um die Wirtschaft zu verändern.

     

Bis 2030 werden rund 45 Prozent des weltweiten Vermögens in den Händen von Millennials sein. Eine historische Chance, die 17 Ziele der nachhaltigen Entwicklung zu finanzieren.

     

Nach welchen Kriterien zeichnen Sie Unternehmen aus?

Wir haben Bewertungsinstrumente geschaffen, um die Governance-Praktiken in Bezug auf Mitarbeitende, Lieferanten und die Umwelt zu bewerten. Dies sind kostenlose Standards und Werkzeuge, die wir den Unternehmen zur Verfügung stellen, um sie beim Handeln zu unterstützen. Im weiteren Sinne bieten wir eine Zertifizierung an, das B-Corporation- Zertifikat. In der Schweiz haben wir ein nationales Programm ins Leben gerufen, um Unternehmen aller Grössenordnungen beim Aufbau ihrer Nachhaltigkeitsstrategie zu unterstützen. Es nennt sich Swiss Triple Impact Programm. Dieses orientiert sich an den globalen Nachhaltigkeitszielen der UNO, den SDGs.

Fürchten Sie nicht, dass nach der Coronakrise rasch alles wieder beim Alten ist und das Pendel aus einem «Nachholbedürfnis» heraus sogar in die gegenteilige Richtung ausschlägt?

Ich bin sehr gespannt, wie wir auf die verschiedenen Signale reagieren werden, die den Paradigmenwechsel ermöglichen. Aber ich bin überzeugt, dass der positive Wandel anhält und künftige Generationen auch vermehrt in nachhaltige Unternehmen investieren werden. Konkret werden zum Beispiel bis 2030 rund 45 Prozent des weltweiten Vermögens in den Händen von Millennials sein. Eine historische Chance, die Agenda 2030 und die 17 Ziele der nachhaltigen Entwicklung zu finanzieren. Wir können das Pendel mathematisch verändern, ihm einen anderen Rhythmus geben und ein selektives und qualitatives Wachstum aufbauen.

     

Experte für soziale Innovation 

Jonathan Normand ist Gründer und Geschäftsleiter von B Lab Schweiz – einer gemeinnützigen Organisation, die Menschen dabei unterstützt, ihren Unternehmergeist für positive Entwicklungen einzusetzen. Als Experte für Governance und soziale Innovation war er zwölf Jahre lang im Management eines internationalen Unternehmens für die operationellen Risiken zuständig, bevor er 2009 seine Beratungsfirma Codethic gründete. Seit 2014 ist er für die Förderung der «B Corp Bewegung» in der Schweiz verantwortlich und im Vorstand mehrerer Verbände im nationalen Nachhaltigkeitsökosystem aktiv – unter anderem im Lenkungsausschus der von der SKO lancierten Initiative «Sustainable Leaders».

Robert Wildi
Interview
Jonas Weibel
Fotografie